»Der andere Liebhaber«

In François Ozons Thriller ist Erotik

eine Frage des Sehens

Es gibt eine Einstellung in »Der andere Liebhaber«, die das ganze Programm von François Ozons Erotik-Psychothriller offenlegt: Wir sehen Chloé (Marine Vacth) auf die Spiegelwand einer ausladenden Lobby in einem schicken Pariser Altbau zugehen. Hier führt der Psychiater Louis Delord (Jérémie Renier) seine Praxis, mit dem sie bald eine Affäre beginnen wird. Die Spiegelwand fächert ihren Körper und ihre Bewegungen auf. Chloés Körper multipliziert sich mit sich selbst.

 

Dieses Bild korrespondiert mit einem anderen: der Großaufnahme einer Vagina, die sich zu Beginn des Films in die Großaufnahme eines Auges hineinschraubt. Eine Überblendung, die deutlich macht: Der Blick, der diesem Film zugrunde liegt, geht nicht nur vom Auge, er geht gewissermaßen auch vom Geschlecht aus. Der Blick ist gespalten. Und eben deshalb bringt er jenes aufgefächerte, multiple Bild hervor, das wir in der Spiegel-Lobby zu Gesicht bekommen. Für Ozon — und das ist der springende Punkt von »Der andere Liebhaber« — ist Erotik in erster Linie eine Frage der Optik. Erotik ist, noch bevor sie körperlich ist, eine Form des aus der Fassung geratenen, entgrenzten Sehens; Erotik ist ein Widerstreit der Reflexionen und ebendeshalb ein Fall für das Kino.

 

Die Handlung des Films ist schnell umrissen: Louis ist nicht nur Chloés Sexualtherapeut, er ist zudem der Zwillingsbruder ihres Partners und Ex-Psychiaters Paul (ebenfalls Renier). Während ersterer herrisch mit ihr verfährt, ist letzterer einfühlsam. Für Chloé beginnt der Kampf einer Wahrheitsfindung — über das Verhältnis der beiden Männer zueinander, über deren Identität und Vergangenheit und letztlich über ihr eigenes Ich-Bewusstsein, das sich in Bauchkrämpfen immer wieder als gestört zu erkennen gibt. Es ist ein Kampf, der zwar sexuell gefochten, aber nicht ausgefochten werden kann; ein Kampf, der wieder und wieder zu Bildern mit einem Knick in der Optik führt: Splitscreens, Überlagerungen, Spiegelungen, Kaleidoskope. Als Psychothriller ist »Der andere Liebhaber« uninteressant. Aber interessant ist, wie Ozon den psychosexuellen Hintergrund der Geschichte nutzt, um ein hocherotisiertes kinematografisches Bild zu entwerfen. 

 

Der andere Liebhaber (L’amant double) F 2017, R: François Ozon, D: Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset, 107 Min. Start: 18.1.