Die Macht wird runterkommen

1977: Tschechoslowakische Künstler solidarisieren sich mit der kriminalisierten Band Plastic People Of The Universe und rufen die Charta 77 ins Leben. Zur gleichen Zeit entsteht auf dem Prenzlauer Berg eine unabhängige Literatenszene, die zum dernier cri der DDR avancierte. Doch während die einen sich politisierten, zogen sich die anderen in eine trügerische Autonomie zurück. Ein Gespräch mit den Literaten Jan Faktor und Bert Papenfuß über die Zeit im Underground.

»Alles fing relativ harmlos und apolitisch an«, schreibt der deutsch-tschechische Autor Jan Faktor über die Anfänge der tschechischen Rocklegende Plastic People Of The Universe. 1968 wurde die Band gegründet, noch von der offenen und experimentierfreudigen Atmosphäre des Prager Frühlings inspiriert. Als die Plastic People in den Folgejahren auf ihren Undergroundstatus beharrten, weiterhin ihren atonalen Rock spielten und nicht daran dachten, ihre Konzerte von den staatlichen Behörden absegnen zu lassen, gerieten sie ins Fadenkreuz staatlicher Repression. »Haare abschneiden und in die Kohlengrube schicken«, empfahl die Genehmigungsbehörde. Die Umsetzung lies nicht lange auf sich warten: 1976 wurden Bandmitglieder verhaftet. Václav Havel erkannte hierin einen »Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität.« Aus der Kampagne für die drangsalierte Band wurde im Januar 1977 schließlich die Charta 77. Auf Initiative Havels appellierten über 150 Dissidenten, Bürgerrechtler und Schriftsteller an die realsozialistische Staatsmacht, sich zur Einhaltung der Menschenrechte zu verpflichten. Heute gilt die Charta 77 als eines der eindringlichsten Beispiele von Dissidenz im Ostblock. Der beteiligte Schriftsteller Pavel Kohout bezeichnet sie als »Mutter aller Resolutionen«. Die konkreten Gründe ihres Zustandekommens sind heute weitgehend vergessen. Die Charta 77 ist auch Ausdruck von Solidarität und einer tiefgehenden Bindung zwischen den verschiedenen als subversiv geltenden künstlerischen Genres.
Jan Faktor, damals 26 Jahre alt, erinnert sich an eine Atmosphäre der Isolation: »Die offizielle Kultur war einfach unerträglich, man konnte sich überhaupt nichts angucken, kein Kino, kein Theater, nichts. Lesen? Ich habe in der Zeit keine Bücher gekauft, keine Zeitung gelesen, war total abgeschnitten von dem, was offiziell passierte. Das Inoffizielle war auch nicht so leicht zugänglich wie in Ost-Berlin.«

Von Prag zum Prenzlauer Berg

Die Chance für ihn als Schriftsteller lag im »Westen«. In seinem Fall war der Westen schon Ost-Berlin. Die besondere Situation der Stadt, die unmittelbare Nähe der Hauptstadt zum als »Frontstadt« aufgemotzten Westteil ermöglichte einen halbwegs toleranten Umgang mit non-konformer Kunst. »Ich war überrascht, wie viel hier möglich war im Gegensatz zu Prag. Wenn da ein paar Leute in ihrer Wohnung Theater gespielt haben, kam direkt die Polizei. Und wenn man sich nur ein bisschen mit dem Ellenbogen gewehrt hat, war das schon Widerstand gegen die Staatsgewalt.«
Faktor heiratete 1978 die Ost-Berliner Psychologin Annette Simon und konnte umsiedeln. Als freier Schriftsteller zu leben, war allerdings unmöglich, er konnte (und wollte) nur in Undergroundpublikationen veröffentlichen. Bis 1989 schlug er sich u.a. als Kindergärtner durch.
»Mein Glück war, dass meine Frau in politischen Undergroundkreisen und Diskussionszirkeln aktiv war. Junge Marxisten, die alles besser, also sozialistisch machen wollten.« Über diese Kreise kam er in die Szene im Prenzlauer Berg, u.a. zum Bürgerrechtler Gerd Poppe. »Poppe veranstaltete auch Lesungen bei sich zu Hause. Da habe ich dann Sascha Anderson und Ekkehard Maass getroffen.«
Sascha Anderson und Ekkehard Maass – das Epizentrum der inoffiziellen Literaturszene. Maass war ein Biermann-Epigone, der 1977/78 anfing, in seiner Wohnung Lesungen zu organisieren. Aus diesen Lesungen kristallisierte sich die Prenzlauer-Berg-Connection heraus, die hippste Literaturszene der 80er Jahre, aber mehr noch: ein 50 bis 60 Mann und Frau großer Zusammenhang aus Literaten, Malern, Töpfern, Filmemachern und Säufern. Ronald und Robert Lippok, heute unterwegs als To Roccoco Rot, bildeten das musikalische Rückgrat der Szene. Dass Anderson, der Organisator und Manager der Szene, schon von Anfang an für die Stasi spitzelte und intrigierte, ahnte keiner. Seine erste Enttarnung inszenierte Wolf Biermann 1991 (»Sascha Arschloch«), ein Großteil der Akten wurde aber erst 1999 rekonstruiert.

Szene und Stasi

Bis heute hält der Streit an, ob Anderson die Szene als IM bewusst de-politisierte, oder ob er einfach nur offene Türen einrannte, weil die Szene sich vom politischen Geschehen generell distanzierte und sich in dem vergessenen und nach dem Krieg nie wirklich modernisierten Stadtteil Prenzlauer Berg behaglich einigelte.
Jan Faktor betont in diesem Zusammenhang die bewusste Distanzierung vom Politischen: »Ich fing 1970 an zu schreiben, mit starkem politischen Anspruch, ich wollte es diesen Schweinen heimzahlen! Ich habe das ein paar Jahre durchgehalten, aber letztendlich gemerkt, dass das, was ich schreibe, alle längst wissen. Diese Einsicht war für mein Schreiben ein Bruch. Ich habe dann konsequent entschieden, alles Politische muss draußen bleiben. Das war lange, bevor ich in die Ost-Berliner-Szene reinkam. Als ich die anderen kennenlernte, habe ich gemerkt, dass die das ähnlich sahen. Sich mit der Staatsmacht auf ein Gespräch einzulassen, wäre albern gewesen. Ich habe erst wieder angefangen, mich zu engagieren, als ich merkte, dass sich wirklich etwas bewegte, im Sommer ’89. Ich war im Neuen Forum, habe deren Zeitung gemacht. Hier in meiner Wohnung mit einem kleinen Drucker und auf Wachsmatritzen.«

Faktor und Papenfuß: bewusst unpolitisch

Liest man die Texte von Faktor oberflächlich, stimmt das: Politik findet nicht statt, eine eindeutige Bezugnahme auf die DDR-Realität fehlt. Es sind Texte, die die deutsche Sprache selber zum Gegenstand haben – um sie zu dekonstruieren. Entfernt erinnert das an Jandl: sich wiederholende, dabei die grammatische Form der Worte überdehnende Kaskaden. Nur, es ist keine »konkrete Poesie«, vielmehr ist das Zentrum der Texte ein Nichts. Ein Vorschlag für eine Theaterinszenierung – ohne Schauspieler und mit leerer Bühne – gipfelt in der Pointe, dass die Zuschauer von der Platzanweiserin wieder nach Hause geschickt werden. Das Politische ist implizit immer da, und sei es in der Form der Abwesenheit von Vernunft.
Die besten Texte schrieb, darüber herrschte in der Szene Konsens, Bert Papenfuß. Ein Elektronikfacharbeiter und überzeugter Rocker, der öfters mit Experimental- und Punkbands performte. Auch in seinen Texten gibt es keine direkten politischen Verweise. Aber in der ungemein dichten Lyrik herrscht ein anarchistischer Ton vor. Wie etwa in »zwei kommandohöhen«: »a) die mAcht wird runter-/kommen, d.h. gestürzt/ werden bis sie stol-/pert, liegengelassen wird sie zu muttererde/ b) wachstum ist bestimmt/ durch die jeweilshöhe/ der nahrungsaufnahme/ in welcher & mit wem/ der fraß genossen wird«.
»Wir haben uns nicht mehr als Dissidenten verstanden und diesen Begriff abgelehnt, da er uns korrupt schien. Korrupt durch die permanente Präsenz in den Westmedien«, erzählt Papenfuß im Interview 20 Jahre später, »Als Anarchist habe ich mich immer anti-politisch verstanden, d.h. für mich ist das Feld des Politischen kein Ort, wo es das Potenzial gibt, Gesellschaft verändern zu können, sondern ein Ort, wo man immer wieder bloß ins Politische zurückfällt und über diese Grenze nicht hinwegkommt. Unter uns wurde das kontrovers diskutiert. Jan Faktor hatte von Anfang an eine sehr große Skepsis gegenüber dem Kommunismus, geprägt durch seine Erfahrung 1968 in Prag. Es gab in unserer Szene natürlich auch unpolitische Tendenzen und eine Menge Leute, für die das alles irrelevant war.«

Zerfall durch Rückzug

Der Zerfall der Szene setzte 1984 in einem Hinterhof in der Lychener Straße ein, nachdem der »Zersammlung« genannte Versuch, sich zu organisieren, scheiterte. »Eigentlich war es eine ziemlich monströse Woche, sieben Tage lang lasen jeden Abend sechs oder sieben Leute, und danach gab es stundenlange Diskussionen. Es stellte sich jedenfalls heraus, dass viele einen alternativen Schriftstellerverband gar nicht wollten«, gibt Papenfuß in der Künstlersozialgeschichte »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« zu Protokoll, » ... und was mich interessierte, war die Frage, inwieweit das ganze politisierbar war. Ich wollte, dass eine Organisation gegründet wurde. Im Laufe der Woche merkte ich aber, dass das mit diesen Leuten nicht ging.«
Das, was Faktor 1978 als Befreiung erlebte, die offene Stimmung in Ost-Berlin, erwies sich als trügerisch: Die Autonomie der Szene wurde durch Rückzug erkauft, und dieser Rückzug lag wiederum im Kalkül der Stasi.
Die Plastic People, ursprünglich auch aus dem »unpolitischen« Undergound kommend, wurden, durch die Repressionen, die sie erlitten, zur Politisierung gezwungen. Ihr Schicksal mobilisierte 1977 nochmal die ganze Prager Szene. Die Prenzlauer-Berg-Connection wurde dagegen nachträglich bestraft. Als 1991 Sascha Anderson geoutet wurde, hörte die literarische Diskussion auf, und die kriminalistische setzte ein. Die Dichter des Prenzlauer Bergs galten bis auf ein paar Ausnahmen auf einmal als naive Dilettanten.

Rockopern und Event-Kneipen

Weiter gemacht haben sie aber alle. Selbst Anderson veröffentlicht noch, verewigt hat ihn aber nur seine Spitzeltätigkeit. Berühmt geworden ist keiner. Vielleicht ist Papenfuß, mittlerweile 45, die Ausnahme. Seit ein paar Jahren hat er die Rolle inne, zu organisieren und ist dabei zu einem linksradikalen Event-Kneipier geworden. Er betreibt das legendäre Cafe Burger in Berlin-Mitte, gibt das anarchistische Magazin »Gegner« heraus, gewinnt Lyrik-Preise, propagiert aber radikaler denn je »Der Blues muss bewaffnet sein!«. Zur Zeit schreibt er an einer monumentalen Rockoper. Über Störtebecker! Papenfuß erträgt es mit Fassung, wenn man ihn »die dichtende Lederjacke vom Prenzlauer Berg« nennt. Und Jan Faktor hat gerade einen Roman beendet.
»Ich habe damals ganz laut gelesen, ganz lang, bis zur Heiserkeit. Ich habe gebrüllt, Dinge, die die Leute vertrieben haben. Bei meinen Lesungen sind regelmäßig Leute gegangen. Es war sehr polarisierend. Die, die blieben, waren auf meiner Seite. Es gibt eine Aufnahme einer Lesung, wo eine Frau anfängt dazwischen zu schreien: »Reicht!« Im Rhythmus des Textes: »Reicht! Reicht!« Mir hat das gefallen, das war offener, lebendiger Protest. Die Leute haben gelacht. Und am Ende ist die Frau geblieben.«
Jan Faktor erzählt das ohne jeden Anflug von Nostalgie.

Das Gesamtwerk der Plastic People, deren Kopf Miroslav Hlavsa vor einem Jahr an Krebs verstorben ist, ist mittlerweile auf 10 CDs erschienen und umfasst eine Zeitspanne von den späten 60er Jahren bis zu den Reunion-Konzerten der 90er. Der musikalische Bogen spannt sich vom stark durch amerikanische Bands (Doors, Velvet Underground, Zappa, The Fugs) geprägten Sound bis zu schwermütigem Jazzrock (erhältlich über: No Man’s Land, nomansland@t-online.de, 030/429 18 57). Einen guten Überblick über die Geschichte der Band bietet Jan Faktor in seinem zusammen mit Annette Simon herausgegebenen Essayband »Fremd im eignen Land?« (Psychosozial Verlag, 1999).

Die Texte der Prenzlauer-Berg-Connection aus den 80er Jahren sind nur noch antiquarisch oder im Ramsch zu finden, dort tauchen sie aber reichlich auf. Wie z.B. die »Gesammelten Texte«, die Papenfuß in den 90er Jahren bei Janus Press veröffentlichte. Sie decken die 70er und 80er Jahre ab. Faktor veröffentliche im gleichen Verlag »Henry’s Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 und andere positive Texte aus Georgs Besudelungs- und Selbstbesudelungskabinett«, schön enervierende Texte aus den 80ern. Absolut empfehlenswert ist das letzte ambitionierte Literaturprojekt zu DDR-Zeiten. Die Reihe des Aufbau-Verlags »Außer der Reihe« (1989-1991). Die Bücher, die in einem bizarren DDR-Punk-Design erschienen, sollten mit zehnjähriger Verspätung die junge Literatengeneration eingemeinden. Herausragend sind die Bände von Papenfuß, Faktor, Peter Brasch und Stefan Döring. (die antiquarischen Titel bekommt man via www.zvab.com).
Aktuelle Lyrik- und Pamphletsammlungen von Papenfuß sind in den Verlagen Galrev (www.galrev.com) und Basisdruck (www.basisdruck.de) erhältlich. Über Basisdruck sind auch die von ihm (mit-)herausgegebenen Zeitungen »Gegner« und »Sklaven« zu beziehen. Und für den Einstieg: Barbara Felsmann/ Annett Gröschner (Hg.), »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« (Lukas Verlag 1999).