Augenblicke

 

Agnès Vardas Dokumentarfilm ist zugleich humanistisches Kunstprojekt und humorvolles Porträt des ländlichen Frankreichs

 

»Augenblicke«, der neue Dokumentarfilm von Agnès Varda, ist ein Roadmovie der etwas anderen Art. Gemeinsam mit dem Künstler JR reist die legendäre, mittlerweile 89-jährige Filmemacherin durch die französische Provinz. Sie steigen in JRs Fotomobil, einem kleinen LKW mit einem Drucker, mit dem sich die riesigen Schwarzweiß-Wandbilder herstellen lassen, die den 34 Jahre alten Street Artist weltweit bekannt gemacht haben und fahren 18 Monate lang durch die Dörfer der Republik. Dort begegnen sie Menschen, die ihnen ihre Geschichte erzählen: Fabrikarbeiter, eine Kellnerin, einen Dorfpostboten und einen schrulligen Künstler. Vardas Gabe zu beobachten und zuzuhören erweist sich dabei als essentiell. Wildfremde Menschen öffnen sich und geben bereitwillig Auskunft. Die dabei entstandenen Großporträts, die JR anschließend auf Hausfassaden, Fabrikanlagen oder einer alten Scheune anbringt, sind so ausdrucksstark und feiern die einzelnen Persönlichkeiten, dass nicht nur die Porträtierten oft sehr bewegt reagieren, sondern sie auch im Kinosaal ihre Wirkung nicht verfehlen.

 

Vardas Dokumentarfilm ist Kunstprojekt wie auch Porträt des ländlichen Frankreichs und seiner Bewohner, zutiefst menschlich und mit zartem Witz erzählt. Varda und JR sind dabei ebenfalls Protagonisten des Films, ihre Gespräche, gegenseitige Inspiration und nicht zuletzt ihre Freundschaft sind genau so wichtig wie die Menschen, denen sie begegnen. Die Regielegende, die langsam ihr Augenlicht verliert und der junge, aufstrebende Künstler, der sich hinter seiner Sonnenbrille versteckt, bilden ein höchst ungewöhnliches Duo, dessen Chemie den Film trägt. Und trotz Altersunterschied sind sie sich in ihrer empathischen Neugier erstaunlich ähnlich.

 

Auch Vardas eigene Vergangenheit als Fotokünstlerin wird gegen Ende Thema, wenn sie etwa an einem Nazibunker am Strand der Normandie eine Aufnahme anbringen, die Varda 60 Jahre zuvor von dem jungen Fotografen Guy Bourdin ganz in der Nähe gemacht hat. Am nächsten Tag hat die Flut das Bild fortgespült. Diese Vergänglichkeit, die auch Vardas eigene ist, und das ist eine der großen Stärken des Films, wird mit melancholischer Wärme und ohne Pathos thematisiert.

 

 

Sehr berührend ist dann der Moment, wenn sie am Ende Vardas alten Freund und Nouvelle-Vague-Kollegen Jean-Luc Godard besuchen fahren und der ihnen die kalte Schulter zeigt. Varda ist in diesem Moment ehrlich verletzt und den Tränen nahe. Doch mit einer wunderbaren kleinen Geste schafft es JR, ihr ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.

 

Augenblicke: Gesichter einer Reise (Visages, Villages) F 2017, R: Agnès Varda, JR, D: Agnès Varda, JR, Jeanine Carpentier, Jean-Luc Godard, 89 Min., Start: 31.5.