303

Unerträglicher Laberflash oder gelungenes Protokoll freien Denkens?

Hans Weingartner versucht sich an einer wortreichen Roadmovie-Romanze

 

 

 

pro

 

Nirgendwo auf der Welt wird die Liebe auf den ersten Blick derart zelebriert, kultiviert und verklärt wie im Kino. Umso schöner wenn ein Regisseur wie Hans Weingartner in seinem bekennenden Liebesfilm »303« genau auf dieses Klischee verzichtet. Liebe auf den ersten Blick in einer lang gezogenen Schuss-Gegenschuss-Sequenz gibt es hier nicht, höchstens auf den hundertsten oder tausendsten Blick. Und dazwischen liegen unendlich viele Worte, denn Liebe — das macht dieser Film in 143 redegewandten Minuten klar — ist in allererster Linie Kommunikation.

Als Jan von seiner Mitfahrgelegenheit versetzt wird und Jule den unfreiwilligen Tramper an einer Raststätte mitnimmt, haben beide eigentlich andere Sorgen. Jule hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist, und Jan ist auf dem Weg ins Baskenland, um seinen biologischen Vater kennenzulernen. Sich mit Unbekannten über eine lange Strecke hinweg im Auto zu unterhalten — das kann spannend sein: Das Moment der physischen Bewegung bringt zumeist auch eine geistige Mobilität mit sich und die Unterhaltung mit einem fremden Menschen ein oftmals überraschendes Maß an Offenheit. Und so reden sich der Politikstudent und die Kommilitonin aus dem Fachbereich Biologie um Kopf und Kragen: über Politik, das Wesen des Menschen, Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen, Kooperation und Konkurrenz, die Vorteile der Treibjagd, die Chemie der Liebe, die Zukunft der Welt, über Eltern und Kindsein, über Utopien und Pragmatismus.

Klingt langweilig, strukturlos, zu wenig am Plot orientiert? Nicht die Bohne! Natürlich muss man sich ein klein bisschen auf den verbalen Reise-Flow des Filmes einlassen. Aber wie Weingartner (»Die fetten Jahre sind vorbei«) hier Philosophie, Naturwissenschaft, Kapitalismuskritik und jede Menge steiler Thesen über die Conditio humana und die Geschlechterdifferenz mit scheinbar leichter Hand in Dialoge packt — das soll ihm erst einmal einer nachmachen. Mit Spannung folgt man den zunehmend belebten Gesprächen und wilden Assoziationen der beiden, weil sich hier in den Rededuellen die Freiheit nicht-vorformatierten Denkens widerspiegelt, an der man im Kino viel zu selten teilhaben darf. Als Roadmovie versteht »303«, dass Reisen eine Daseinsform ist, die Herz und Bewusstsein öffnet. Und genau das ist auch Weingartner gelungen.

 

Martin Schwickert

 

 

 

kontra

 

A little less conversation ... Auch der beste Roadtrip kann zum Albtraum werden, wenn der Beifahrer den Mund nicht halten kann und mit einem Übermaß Sendungsbewusstsein ausgestattet ist. Als gälte es, diese Warnung zu untermauern, hat Ex-Regiewunderkind Hans Weingartner (»Das weiße Rauschen«) mit »303« ein Roadmovie verbrochen, das sich trotz freier Fahrt wie ein zweieinhalbstündiger Stau anfühlt. War man nach dem achtbaren Drama »Die Summe meiner einzelnen Teile« bereit, dem verkrachten Auteur den altklugen »Die fetten Jahre sind vorbei« und die Trash-Rakete »Free Rainer« nachzusehen, zeigt er mit »303«, dass noch immer der welterklärende Durchblicker in ihm schlummert.

 

Dabei fängt alles so formschön und unprätentiös an: Jule, Biologiestudentin, ungewollt schwanger mit verbockter Zwischenprüfung und kaputter Fernbeziehung, tuckert im titelgebenden Wohnmobil des verstorbenen Bruders zum Freund nach Portugal und gabelt unterwegs Jan auf, angry young man gefangen im Leben eines schluffigen Politikwissenschaftlers, der gerade auf dem Weg zum ersten Treffen mit dem leiblichen Vater in Spanien ist. Man versteht sich. Ob aus der zweckdienlichen Fahrgemeinschaft am Ende vielleicht mehr wird? Liebe gar?

 

Sobald sich Jule und Jan ins erste von zahlreichen peinlich gestelzten Dialoggefechten stürzen, interessiert bald nur noch, wessen Schweigen wohl schöner klingt. Schnell erinnert das endlose Akademiker-Geplauder über Gott und die Welt an den verklemmten Mensa-Flirt zweier ehemaliger Neon-Abonnenten. Der Mehrwert dieses inneren Schlaufuchs-Monologes, der hier notdürftig zum Dialog umgeschrieben wurde, hält sich in Grenzen. Wir lernen: Einsamkeit ist doof und spielt dem Kapitalismus (»auch doof«) in die Karten, Monogamie (»Buh!«) ist eine gesellschaftstragendes Konstrukt von anno dazumal und muss weg (»endlich sagt’s mal einer«). Der Mensch ist ein soziales Wesen (»na sicher!«), doch kommt er nur nicht dazu, es zu zeigen (»schade, eigentlich«). Sozialismus (»supi!«) ist eine tolle Idee, der Mensch ist nur zu schlecht ihn richtig umzusetzen (»verdammt!«). Ach ja: Mann und Frau können erschnuppern, ob sie zueinander passen, wenn nur vorher die Pille abgesetzt wird. Und so weiter und so fort. Kein Thema bleibt sicher vor dem durch Europa rollenden Thinktank mit der Kraft der zwei Studiengänge. Kein Wunder, dass das amouröse Knistern zwischen den Plaudertaschen reine Behauptung bleibt.

 

Um den Sekundenschlaf zu vermeiden (die größte Gefahr für Film und Fahrer), helfen auch nicht die seicht-touristischen Aufnahmen Europas — die Landschaften typisch, die Bauwerke weltberühmt — und der fade Indieschrammel-Soundtrack. Sie sind aber trotzdem willkommen, wenn sie zumindest für kurze Verschnaufpausen bis zum nächsten Laberflash sorgen ... a little more action please!

 

Robert Cherkowski