Sterben für die Wissenschaft

Offiziell gab es die Euthanasie im Dritten Reich bis zum Sommer 1941. Die Kindereuthanasie und die »wilde Euthanasie« wurden jedoch bis Kriegsende weiter betrieben. 1943 wurden auch die Patienten des St. Josefshaus für geistig Behinderte in Mönchengladbach deportiert, darunter viele Kölner.

Im Januar 1945 schreibt der 16-jährige Pflegling Josef P., der im Mai des Jahres 1943 aus dem St. Josefshaus in Mönchengladbach in die Wiener Heil- und Pflegeanstalt Steinhof verlegt wurde an seine Eltern: »Liebe Eltern! ... Hier ist es sehr schlecht, wir kriegen nur eine Schnitte Brot und ein bisschen Kaffee.... Wir liegen den ganzen Tag im Bett. ... Liebe Mutter, die Kinder werden nie satt gemacht. Die Männer kriegen mehr als wir, wir sollen Hunger leiden. ... Die schlechten Grüße sendet Dir Dein Josef.« Dieser Brief hat die Eltern nie erreicht und Josef P. hat den Aufenthalt in Wien nicht überlebt.
Im katholischen von Vinzentinerinnen geführten St. Josefshaus waren geistig Behinderte untergebracht, darunter eine Vielzahl von Kindern. Am 19. April 1943 wurde im Düsseldorfer Landeshaus eine Teilräumung des Josefshauses beschlossen, und schon am nächsten Tag ging der entsprechende Bescheid beim leitenden Arzt ein: Es sollte Platz geschaffen werden für die Unterbringung körperlich Kranker und so genannter Alterspfleglinge. In drei Transporten wurden 259 Männer und Jungen in den Tod geschickt.
87 Josefshausbewohner wurden in eine Nervenklinik nach Niedernhart bei Linz in Oberösterreich gebracht. Anstaltsleiter war Dr. Rudolf Lonauer, einer der ersten Österreicher, die der NSDAP beitraten, und im Alter von 33 Jahren bereits Leiter der ebenfalls nahe Linz gelegenen Euthanasieanstalt Hartheim, der einzigen nach Rücknahme der Euthanasieermächtigung durch Hitler im August 1941 noch weiter betriebenen Tötungsanstalt.

»Wilde Euthanasie« in Hartheim

Als die »Kapazitäten« von Hartheim nicht mehr ausreichten – dort wurden nach 1941 auch KZ-Häftlinge vergast – ging Lonauer auch in Niedernhart zur »wilden Euthanasie« über und begann eigenverantwortlich Patienten zu töten. Dies geschah durch Injektionen von Luminal, durch Starkstromstöße, durch Einflößen von vergiftetem Wasser und wahrscheinlich auch durch Verhungern lassen. Ort des Geschehens: die Abteilung V, die Lonauer vom Rest des Klinikbetriebes isoliert hatte. Zwei Tage durften sich die Kinder aus dem St. Josefshaus ausruhen. Dann begann Dr. Lonauer mit seiner »Arbeit«. Nicht einmal sechs Wochen brauchte er dafür. Als »Todesursachen« gibt er an: Herzschwäche, Tod im epileptischen Anfall, Magen-Darm-Katarrh. Nach den vorliegenden Listen starb am 22.6.1943 an »Kreislaufstillstand« als letzte Person aus diesem Transport der 23-jährige Niederländer Johann t. M., der seit 1933 im St. Josefshaus lebte.
Am 25. April 1945 signiert Lonauer seinen letzten Sterbeschein. In der Nacht zum 5. Mai 1945 vergiftet der Mörder von Niedernhart und Hartheim seine Frau und seine beiden Kinder und schluckt dann selbst eine tödliche Dosis Gift. Unter den Opfern Lonauers befanden sich auch 19 Kölner. Das älteste: Blasius H., 37; Lonauers jüngstes Kölner Opfer, Wilhelm K., war fünf.

Beschönigende Benachrichtigung der Angehörigen

Doch damit ist nur der erste Teil der Suche nach dem Verbleib der Patienten aus dem St. Josefshaus abgeschlossen. Vom 18. bis 20. Mai 1943 wurden laut Zu- und Abgangsbuch des St. Josefshauses insgesamt 144 Patienten in die Anstalt Wagner von Jauregg nach Wien transportiert, unter ihnen insgesamt 21 Kölner, die zum Zeitpunkt des Transports zwischen vier und 20 Jahren alt waren. Über das Schicksal dieser ebenfalls ausschließlich männlichen Patienten war bis vor kurzem nichts bekannt, obwohl die Unterlagen des St. Josefshauses schon seit einiger Zeit in Wien vorliegen.
Fest steht nun, dass diesen Transport nur 20 Personen überlebt haben. Ihre Namen sind bis heute nicht bekannt. Alle anderen wurden in Wien nicht anders behandelt, als die Opfer des Dr. Lonauer in Niedernhart. Zynisch waren die beschönigenden Benachrichtigungen an die Angehörigen der Getöteten: »Ihr Sohn (erkrankte) an heftigen Durchfällen, denen er erlegen ist. Er ist sanft hinübergeschlummert... Es sei Ihnen ein Trost, dass das Kind trotz der schweren Erkrankung offensichtlich nicht gelitten hat, denn es war immer heiter und brummte in der gewohnten Weise vor sich hin. Und nun ist es von allen Leiden erlöst. Sein Heimgang war still und friedlich; es ist ihm sicher nicht zum Bewusstsein gekommen, dass es mit ihm zu Ende geht.«

Wissenschaftlicher Ruhm statt Strafe

49 nach Wien deportierte St. Josefshausbewohner wurden in die städtische Kindernervenklinik Am Spiegelgrund, die sich auf dem Gelände der Anstalt Am Steinhof befand, überwiesen. Unter Ihnen waren auch fünf Kölner. Seit die Klinik vom überzeugten Nationalsozialisten Dr. Ernst Illing geleitet wurde, stiegen die Todesfälle an und erreichten im Jahre 1943, als auch die Patienten vom St. Josefshaus in Wien eintrafen, ihren Höhepunkt. Die Kinder waren nicht nur der »Beobachtung« dieser Ärzte und des Pflegepersonals ausgesetzt, nach ihrem Tod wurden ihre Gehirne entnommen und sind bis zum heutigen Tage in Wien aufbewahrt.
Neben Illing war an den Mordaktionen auch Dr. Heinrich Gross beteiligt. Illing wurde in den Jahren 1945/46 der Prozess gemacht, 1946 wurde er erhängt. Gross verurteilte man 1950 zu zwei Jahren schweren Kerkers. 1951 wurde dieses Urteil aufgehoben. Im gleichen Jahr begann er seine weitere Karriere. Es hat den Anschein, als wäre Dr. Gross durch die Republik Österreich, die Stadt Wien und die Anstaltsleitung des Steinhof gedeckt worden, und würde noch immer gedeckt. Er kehrte an den Ort seiner Verbrechen, die Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, zurück und arbeitete schon 1953 mit den Gehirnpräparaten der Opfer der Euthanasie, publizierte wissenschaftliche Arbeiten und erlangte wissenschaftlichen Ruhm. Die der SPÖ (Sozialistische Partei Österreichs) nahestehende Theodor-Körner-Stiftung zeichnet Gross aus, und im Jahre 1968 wird er Leiter eines eigens für ihn geschaffenen Instituts zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems der ebenfalls SPÖ-nahen Ludwig-Bolzmann-Gesellschaft.

Wiederaufnahme des Prozesses

Hätten nicht überlebende Opfer die Öffentlichkeit informiert, würde Gross unbehelligt, als angesehener Bürger, seinen Lebensabend genießen. So wurde erst Anfang des Jahres 2000 am Wiener Straflandesgericht ein Prozess gegen ihn eröffnet, wegen mutmaßlichen Mordes in der NS-Kinderklinik. Nach 40 Minuten war die Verhandlung vorbei, der Angeklagte sei wegen seiner eingeschränkten Aufnahmefähigkeit nicht in der Lage, dem Prozess zu folgen.
Weil man das Thema abschließen will, hat sich die Gemeinde Wien entschieden, am 28. April auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab die noch vorhandenen 429 Gehirnpräparate, Rückenmarkstränge und tausende Gehirnschnitte zu beerdigen. Auf dem Gedenkstein sollen 789 Namen stehen. Ob die Namen der 144 Josefshauspatienten darunter sein werden, ist unklar. Es gab ja Überlebende – und deren Identität ist nicht bekannt.

Auch 60 Jahre nach den Deportationen gibt es noch immer – vor allem zu den Kindern aus dem St. Josefshaus, die nach Wien verbracht wurden – viele offene Fragen. Angehörige können sich an den Österreichischen Nationalfonds, Dr. Meissner, Tel. 00 43 - 01 - 408 12 63 wenden. Auch der Autor (dieter.braeg@epost.de) wäre zwecks Fortsetzung seiner Recherchen über eine Meldung dankbar. Er ist auch im Besitz von Namenslisten der nach Linz und Wien deportierten Patienten des St. Josefshaus.