»Es gibt so etwas wie Unschuld und Güte«

Alice Rohrwacher über ihren Film »Glücklich wie Lazzaro«, den Glauben an das Gute und die populistische Regierung in Italien

Frau Rohrwacher, von welchem Glück ist im Titel von »Glücklich wie Lazzaro« die Rede?

 

Der Titel bezieht sich auf eine Redewendung im Italienischen. Man könnte sie vergleichen mit dem deutschen Hans im Glück, also ein Glück, das man nicht kaufen kann. Lazzaro hat nichts, ist aber trotzdem glücklich.

 

 

Der junge Lazzaro gehört zu Pachtbauern, die de facto wie Leibeigene leben. Gab es einen realen Vorfall, der Sie zu der Geschichte inspirierte?

 

Es gab tatsächlich, als ich ganz jung war, den Fall einer Marchesa, die feudale Verhältnisse aufrechterhielt, indem sie den Bauern verschwieg, dass das System der Halbpacht bereits abgeschafft war. In diesem System haben die Bauern nicht viel mehr als ihre Arbeitskraft, der ganze Ertrag geht an die Grundbesitzer. Ich erkenne in dieser Geschichte etwas, das bis heute überall auf der Welt gilt, wo einige wenige Menschen andere in Unwissenheit halten, um ihre Privilegien nicht zu verlieren.

 

 

In einer Schlüsselszene zitieren Sie ein berühmtes Motiv aus der Exodus-Tradition: So wie das Volk Israel aus Ägypten aufbricht, und dabei durch das Rote Meer muss, müssen auch hier die Bauern durch Wasser in ein neues Leben. Aber das Wasser ist nicht einmal knöcheltief.

 

Darin sehe ich die ganze Absurdität und Tragik der vielen Grenzen, die wir unnötigerweise zwischeneinander errichten. Die Grenzen verlaufen sogar mitten durch Italien. Ich wollte zeigen, dass es eine Migration innerhalb Italiens gibt und immer schon gab: Menschen ziehen vom Land in die Stadt. Populismus und Rassismus haben auch da ihre Wurzeln.

 

 

Schließen Sie mit Figuren wie Lazzaro und seiner Gruppe an bestimmte Traditionen im italienischen Kino an?

 

Ich denke an Pasolinis Vorliebe für die Subproletarier, für die Menschen unterhalb des Klassensystems. Ich weiß nicht, ob ich da eine Faszination sehen soll, denn dieses Subproletariat zeigt sich eigentlich ziemlich niederträchtig gegenüber Lazzaro.

 

 

Der gegenwärtige italienische Innenminister Salvini hat kürzlich vorgeschlagen, die Roma im Land registrieren zu lassen. Haben die Figuren in »Glücklich wie Lazzaro« einen vergleichbaren Stellenwert?

 

Sie sind vielleicht nicht ethnisch, aber in vielerlei anderer Hinsicht mit Menschen vergleichbar, die man früher »Zigeuner« nannte, und die als Erntehelfer oder am Rande der Städte ihr Auskommen suchten. Es ging uns darum, dass man erkennt, dass diese Geschichte jeden Menschen betreffen kann, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit. Die Familien rund um Lazzaro, das sind die Letzten in unserer Gesellschaft, die Untersten, und was wir uns klarmachen müssten, das ist der Grad unserer Verantwortlichkeit ihnen gegenüber.

 

 

Der Film hat dokumentarische Aspekte, und doch ist es deutlich eine Erzählung. Worin lag der Vorteil, einen Spielfilm über diese Randexistenzen zu machen und nicht einfach einen Dokumentarfilm?

 

Dokumentarfilme wollen etwas ganz anderes. In »Glücklich wie Lazzaro« wollen wir fünfzig Jahre unserer jüngeren Vergangenheit in den Blick bekommen. Es ist ein spiritueller Film. Über die Fiktion kommt er an die Realität heran.

 

 

Über Lazzaro heißt es an einer Stelle: »Alle beuten irgendjemand aus, nur er beutet niemand aus.« Das ist ein interessanter Punkt: eine Utopie, die am schwächsten Punkt beginnt.

 

Der Film ist utopisch in dem Sinn, dass er anerkennt, dass es so etwas wie Unschuld und Güte gibt, und zwar so, wie es die Sonne und den Mond und andere Erscheinungen des Lebens gibt. Dinge, die einfach gegeben sind. Lazzaro steht für eine bedingungslose Hingabe für den Menschen, unabhängig von sozialen oder psychologischen Bedingungen. Lazarus ist gut, und basta. Sein Gutsein bedarf keiner Begründung.

 

 

Italien wird zur Zeit von einer populistischen Koalition regiert. Finden Sie sich im Parteienangebot politisch überhaupt wieder? Das ist eine seltsame Frage, als würde man fragen: Wofür hast du gestimmt?

 

Es gibt so viele Parteien, aber die, die man vielleicht wählen könnte, sind sicher nicht an der Regierung. Ich bin jedenfalls akut besorgt, denn Italien ist heute durch eine Politik der extremen Gewalt und der extremen Ignoranz geprägt.

 

 

Vom Film her könnte man meinen, Sie hofften vielleicht auf eine grundsätzlichere Veränderung des Politischen insgesamt, nicht einfach auf bessere Parteien.

 

Dringend geboten ist vor allem, die Unabhängigkeit des Denkens zu fördern. Dafür sollten wir alle Mittel einsetzen: Bildung, Kultur, alles sollte dazu dienen, das Denken und Fühlen zu entwickeln. Heute ist es ja so, dass es eine allseitig Verfügbarkeit des Wissens gibt, aber viel zu selten eine Unabhängigkeit des Urteils.

 

 

 

 

Alice Rohrwacher

Rohrwacher wurde 1982 als Tochter eines Deutschen und einer Italienerin in Italien geboren. Sie studierte Philosophie und Literatur in Turin. Bereits ihr Debütfilm »Corpo Celeste« (2011) lief beim Filmfestival von Cannes. Der Nachfolger »Land der Wunder« (2014) wurde dort mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Für »Glücklich wie Lazarro« bekam sie an selber Stelle dieses Jahr den Preis für das beste Drehbuch. Ihre Schwester ist die Schauspielerin Alba Rohrwacher.