So viel Distanz wie möglich

Das Kino Latino Festival präsentiert wieder aktuelle Filme aus Süd- und Mittelamerika

Wenn sich Pedro auf die Straße traut, beginnt ein Fünf-Minuten-Countdown, der zum Psychotrip zu werden droht. Unentwegt dreht er sich voller Misstrauen nach den Passanten um, an denen er vorbei läuft, bis sich seine Paranoia auf den Zuschauer überträgt.

 

Pedro ist die Hauptfigur in »Tinta Bruta« von Marcio Reolon und Felipe Matzembacher, der den Blick auf die Homophobie der brasilianischen Gesellschaft weitet. Dafür wurde das Regie-Duo auf der Berlinale mit dem Teddy-Award ausgezeichnet. Durch seine pixelige Desktopkamera sehen wir Pedro bei Performances zu, die er live in einen Chatroom streamt: Als NeonBoy tanzt er und bemalt dabei seinen Körper mit fluoreszierender Farbe. Die Leute zahlen, um ihn dabei zu beobachten und oft bleibt unklar, ob sie dabei lediglich ihren Voyeurismus pflegen oder Pedro womöglich in Gefahr schwebt. Als ein zweiter Performer beginnt, seinen Stil zu imitieren, droht Pedro endgültig die Kontrolle zu verlieren.

 

Solche beobachtenden und höchst wachsamen Perspektiven finden sich im aktuellen Filmschaffen Mittel- und Südamerikas vermehrt — das legt zumindest das Programm des diesjährigen Kino-Latino-Festivals nahe.

 

Es eröffnet mit »Familia Sumergida« von Maria Alché. Alché, die als Gast auf dem Festival erwartet wird, erzählt in ihrem Regiedebüt die Geschichte einer Frau, die seit dem plötzlichen Tod ihrer Schwester wie betäubt durch ihren Alltag schlafwandelt. Handwerker, Nachbarn und Familienmitglieder schneien herein und die Kamera versucht so viel Distanz wie dies in der dämmrigen Wohnung nur möglich ist einzuhalten, und beobachtet, wie das Leben versucht, unter die Käseglocke ihrer Trauer zu dringen.

 

Maria Ramos’ Dokumentarfilm »O Processo« nutzt derweil seinen am direct cinema geschulten Blick, um eine Lücke zu füllen: eine ausgewogene  Berichterstattung über das Amtsenthebungsverfahren gegen die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff. Aus der Perspektive ihrer Verteidiger filmt die Regisseurin Abstimmungen, Strategiebesprechungen und Verhöre und anfangs fällt es schwer, sich zwischen den fahlen Gesichtern in fensterlosen Räumen zu orientieren, denn Ramos verzichtet auf erklärende Kommentare oder talking heads. Absurde Situationen häufen sich, wenn zum Beispiel eine wichtige Debatte unterbrochen wird, um eine Klingel auszutauschen, weil diese des historischen Augenblicks nicht würdig sei. »O Processo« braucht keine deutliche Stellungnahme zu formulieren, er funktioniert als stumme Anklage.