Marcel Wurm

Verlust der Resonanz

Abschied von einer frühen und langen Weggefährtin der Stadtrevue:

Die Musikzeitschrift Spex stellt nach 38 Jahren ihr Erscheinen ein

 

Der bekannteste Spex-Leser sah so aus: Ein Heranwachsender in der westdeutschen Provinz der 80er oder auch 90er Jahre, häufig ein Junge, aber nicht selten auch ein Mädchen, der (oder die) unter der Formlosigkeit, der Bräsigkeit des Alltags litt, einer gemütlichen und wirtschaftlich hocheffektiven Intoleranz, die den Andersdenkenden zwar nur noch selten offen schikanierte, ihn aber auch nicht zum Zuge kommen ließ. Wie eh und je: Man musste raus aus der Provinz, Stadtluft macht frei! Und das Medium, das als Schwelle fungierte, weil es schon ein Repräsentant der wirklichen Welt war, das selbst an den hinterletzten Provinzkiosken auslag und unerhörte Geschichten von Dissidenz und Queerness, von Selbstermächtigung und erfolgreichem Außenseitertum, von Coolness und Lässigkeit angesichts aller Zudringlichkeiten der modernen Zeit verkündete, war die 1980 in Köln gegründete Spex

 

Hat es diese Heranwachsenden wirklich gegeben? Zumindest hat es in Kölner — und natürlich auch in Berliner, Frankfurter und Hamburger — Kneipen eine Menge Leute gegeben, die diese persönliche Aufbruchszeit beschworen haben und Spex als Katalysator ihres Begehrens beschrieben. Vermutlich ist das hemmungslos idealisiert. Die Pointe besteht aber darin, dass die verschiedenen Spex-Redaktionen über Jahre, gar Jahrzehnte hinweg mit dieser Idealisierung spielten: Man erzählte nicht nur von Musikern — weniger von Musikerinnen —, die sich auf coole Weise ermächtigten, man tat es auch selbst. Mehr noch: Es kam nicht so sehr auf die Musik an, die die Autorinnen und Autoren aus sicherlich tiefster Überzeugung ihrem (übrigens hauptsächlich großstädtischen) Publikum empfohlen, es war die Geste, die die Redaktion in nicht wenigen Fällen sogar cooler als die jeweilige Band dastehen ließ. Die tiefste Überzeugung konnte schon nach drei Monaten in angewiderte Langeweile umgeschlagen sein. Damit musste man als Leser rechnen. Die Botschaft war klar: Musik ist kein Objekt der naiven Identifikation, kein soziologisches Feld, kein Nebenkriegsschauplatz ideologiekritischer Entlarvungen. Sie ist ein radikales Mittel des Weltumgangs, vielleicht der einzig adäquate. 

 

Deshalb greift es zu kurz, dass das Ende der Spex — oder auch das Ende von Intro — so häufig mit dem Verlust ihrer Gatekeeper-Funktion erklärt wird: Demnach hätte Dank Youtube, unzähligen Online-Portalen und den Meinungswarenhäusern von Facebook und Twitter jeder bequem die Möglichkeit, sich das frei assoziierende Wissen anzusammeln, für das es früher nerdige Pop-Journalisten brauchte. Man kann auf dieses Nerdtum verzichten, jeder ist sein eigener Nerd. Das stimmt, und es ist sogar ein Fortschritt, aber das traf Spex und Intro nichts ins Mark (Groove hingegen, der dieses Jahr ebenfalls das Licht ausgeblasen wurde, ist tatsächlich so ein Gatekeeper-Medium gewesen). Denn es ging den Machern zumindest in ihren besten Momenten nicht darum, mehr zu wissen, es besser zu wissen, sondern im Zweifelsfall ein abwegiges Artefakt — irgendeine obskure Veröffentlichung oder aber eine listig umgedeutete Mainstream-Produktion von Madonna oder den Pet Shop Boys — zum Medium nonkonformistischer Erfahrung zu erheben.

 

Letztendlich ist dieses Prinzip daran gescheitert, dass immer weniger Anzeigenkunden dafür zahlen wollten. Oder nein: Sie wollten genau dafür bezahlen, erwarteten dann aber, dass die idiosynkratischen Texte auf die Werbeträger — Bands mit aktueller Veröffentlichung, die als Hype angepriesen werden sollte — zugeschnitten waren. Das geht aber auf Dauer nicht gut: Selbstermächtigung zu behaupten und sie gleichzeitig nolens volens in die Abhängigkeit von Anzeigenkunden zu bringen.

Spex und Stadtrevue teilten in den frühen 80ern gemeinsame Büroräume in der Südstadt. Mehr noch aber teilten sich die beiden unabhängigen, selbstverwalteten Verlage Autoren und Redakteure, das zog sich bis ins letzte Jahrzehnt. In der Praxis erwies es sich als überraschend problemlos vom einen zum anderen Medium zu wechseln. Das mag verwundern, weil gemessen an den verwegenen Ansprüchen der Spex-Leute die Stadtrevue nie cool war, aber es zeigt doch eine gemeinsame Verwurzelung in einem linken Milieu an. Obwohl es in den Großstädten immer mehr Linke gibt — verglichen mit den 80er und 90er Jahren —, existiert dieses geschlossene oder besser: in sich gefestigte Milieu nicht mehr. Auch das hat zur Krise der Selbstermächtigung beigetragen: Ihr fehlt jener soziale Resonanzraum, der auf keinen Fall mit den berüchtigten digitalen Filterblasen verwechselt werden darf.

 

2000 verlor Spex ihre Unabhängigkeit, der Verlag war, ein Vorbote des Niedergangs der Plattenindustrie, recht früh in eine wirtschaftliche Krise gerutscht und musste verkauft werden. Der letzten Kölner Redaktion mit Kollegen wie Wolfgang Frömberg, Markus Hablizel oder Uh-Young Kim gelang es noch, den Geist der Vorgänger zu bewahren. Der vom Verlagshaus Piranha Media 2007 anbefohlene Wechsel nach Berlin beschleunigte den Niedergang: Niemand in den Berliner Szenen, die sich selbst genug sind, wartete auf die Spex. Dass irgendwo in der Hauptstadt fast zwölf Jahre noch Redaktionen an einem nun essayistischeren und gediegen daherkommenden Heft bastelten — wer hätte das gedacht?

 

Viele Spex-Texte aus den 80er und 90er Jahren, die man im Hinterkopf als superwichtig und legendär abgespeichert hat, lohnen kaum das Wiederlesen. Aber die Texte sollten ja auch nicht wiedergelesen werden, man schrieb für den Moment. Und dieser Moment war Ewigkeit genug.

 

Der Autor veröffentlichte seine ersten Texte ab 1995 in der Spex. Max Annas, der für beide Magazine schrieb, holte ihn ein Jahr später zur Stadtrevue.