Ki-taek und Familie in »Parasite«

Entleerte Gesten

Cannes-Tagebuch, Teil 3: Die Palmen sind vergeben. Und: Sex verkauft nicht immer, Crime schon eher

Skandalfilme gehören zu Cannes wie die Palmen, der rote Teppich und das Schlangestehen. Dieses Jahr sah es allerdings lange so aus, als käme das Festival ohne aus. Selten war der Wettbewerb zudem qualitativ so homogen wie bei dieser 72. Ausgabe: In einer mehr als soliden Auswahl gab es wenige Ausreißer nach oben oder unten.Doch dann kam zwei Tage vor Ende Abdellatif Kechiches »Mektoub, My Love: Intermezzo« offenbar direkt aus dem Schneideraum, eine Fortsetzung seines letzten Films »Mektoub, My Love: Canto Uno«.

Es beginnt mit einem halbstündigen Vorspiel am Strand, in dem eine Gruppe algerischstämmiger Franzosen, in der Mehrzahl junge Frauen, aus dem Mittelmeerort Sète sich mit einer 18-jährigen Pariserin anfreunden. Darauf folgen ungefähr drei Stunden einer Clubnacht, in der die jungen Frauen aus der Gruppe in der Disko entweder an den Stripstangen twerken oder sich an der Bar mit allen möglichen Drinks berauschen und dabei über ihr Leben, Sex oder Typen reden. Eine der jungen Frauen, Ophélie, ist schwanger von einem Soldaten, der gerade im Einsatz ist, hat aber auch ein Verhältnis mit einem der Jungs aus der Gruppe. Mit einem dritten wiederum zieht sie sich auf die Clubtoilette zurück, um sich dort von ihm ausgiebig oral befriedigen zu lassen.

Doch als diese Szene kam, waren schon viele bei der Vorführung gegangen. Was schade ist, denn vor allem durch seine Dauer, wird »Mektoub, My Love: Intermezzo« doch noch zu einem interessanten Film. Was in der ersten halben Stunde tatsächlich lediglich sexistisch ist  — die Kamera zieht die jungen Frauen am Strand quasi aus, während die nichts anderes machen, als sich zu unterhalten —, wird in der Nachtclubsequenz ambivalenter. Zum einen werden die jungen Frauen hier selber aktiv. Die Kamera verdoppelt in erster Linie ihre Inszenierung als begehrenswerte Tänzerinnen. Diese Fremd- und Selbstobjektifizierung bekommt irgendwann zudem durch die schiere Dauer des Films noch mal eine neue Qualität (im neutralen Sinne des Wortes). Irgendwann dürfte selbst der größte Po-Fetischist genug haben. Die ewige Wiederholung des Arschwackelns ermüdet nur noch, wird zur auch sexuell entleerten Geste. Plötzlich hat Kechiches Film mehr mit Andy Warhols minimalistischen Langzeiterkundungen einzelner basaler menschlicher Aktivitäten (»Eat«, »Sleep«, »Drink«) als mit einem Sexploitation-Film gemeinsam. »Mektoub, My Love: Intermezzo« wird tatsächlich irgendwann zu echter Seh-Arbeit – »Sex sells« hat im Kino auf jeden Fall selten weniger gestimmt. Ein ohne Zweifel zwiespältiger Film, der aber statt reflexhafter Abwehr tatsächlich eine ernsthafte Diskussion verdient hätte.

Dass Gewalt immer noch – oder vielleicht: wieder mehr – im Kino akzeptiert wird als Sex, ließ sich an diesem Cannes Jahrgang gut ablesen. Kechiches Film wurde verdammt, über eigentlich unnötig brutale Szenen in Quentin Tarantinos »Once Upon a Time in Hollywood« oder Bong Joon-hos »Parasite« noch nicht einmal diskutiert. Wobei letzterer durchaus verdient von der Jury um Alejandro González Iñárritu mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Sein als komödiantisches Familiendrama beginnender Thriller würde ein wunderbares Double-Feature mit Jorden Peeles US-Erfolgs-Horrorfilm »Wir« abgeben. Beide Regisseure zeichnen mit den Mitteln des Genrekinos ein Bild der Klassengesellschaft ihres Landes, indem sie zwei Familien gegenüberstellen, die nicht nur metaphorisch oben und unten leben. Hier sind es Vater Ki-teak mit seiner Frau und seinem Sohn und seiner Tochter, die in einer Souterrain-Wohnung in Seoul hausen, und die reiche Familie Park, die in einer supermodernen Villa mit Garten residieren. Mit viel Geschick gelingt es jedem Mitglied der armen Familie um Ki-teak, einen Job als Hausangestellte bei den Parks zu ergattern, die nicht ahnen, dass sie einer Familie von Betrügern aufgesessen sind. Mehr sollte man tatsächlich nicht verraten, wie Regisseur Bong vorab gebeten hat.

 

»Parasite« gelingt auf jeden Fall, was nur wenige Filme schaffen: Sozialkritik so filmisch zu verpacken, dass auch ein Publikum angesprochen wird, dass nie von sich behaupten würde, mehr als Unterhaltung im Kino zu suchen.