Schwimmen in Milch

Alvis Hermanis inszeniert in der Halle Kalk ein Experiment, das der Stadt ganz nahe kommen will.

Im Einzelnen steckt das Ganze, im Staubkörnchen Mensch eine ganze Welt. Mit dieser poetischen Annahme hat Alvis Hermanis, geboren 1965 in Riga und seit rund fünf Jahren ein Regiestar auf deutschsprachigen Bühnen, schon mehrere Theaterabende bestritten, die zwischen Dokumentarfilm, Fiktion und Selbsterfahrung schillert. In seinen »Lettischen Geschichten« begleiteten 22 Schauspieler 2005 einen Monat lang Kindergärtnerinnen, Striptease-Tänzerinnen, Soldaten oder Hühnerfarmarbeiterinnen und studierten deren Leben. Heraus kamen berückende, authentische und intime Geschichten, die sich anhören wie Romane – und gleichzeitig das prosaische Leben sind.

In »Väter« (2007) erinnerten sich Schauspieler an eine der einflussreichsten und geheimnisvollsten Beziehungen ihres Lebens, erzählten auf der Bühne von ihren Vätern und verwandelten sich dabei nach und nach in sie: Aus Kleinigkeiten entstand Komik, aus Realität Kunst. Ein Experiment, das nicht nur persönliches Leben reflektiert, sondern auch den Mythos Theater: Wie entwickelt sich eine spielende Nachahmung?

Nun ist Hermanis auf Einladung von Schauspielintendantin Karin Beier nach Köln gekommen, eine Stadt, die er kaum kennt, aber sofort mochte, und inszeniert die »Kölner Affäre« nach einem ähnlichen Prinzip. Ein Theaterexperiment, das wie kein anderes das Versprechen Beiers einlösen könnte, das Theater mit der Stadt zu verzahnen.
Monatelang haben die Ensemble-Mitglieder Julia Wieninger, Ilknur Bahadir und Markus John drei Kölner »Prototypen« begleitet und ihre Geschichten aufgezeichnet. Aus ihnen entsteht der Abend. Juris Baratinskis, der vierte Schauspieler, ein riesenhafter Russe aus Riga mit dröhnender Stimme, ist dagegen selbst ein Prototyp: Einst badete ihn sein Vater in einem Eisloch in Lettland. Später war er Immobilienmakler, besuchte eine Theaterschule in Riga, wurde 1984 ausgewiesen und kam nach Köln: »Köln ist für mich ein spiritueller Ort«, sagt er. Menschlich wärmer und großzügiger als alle Städte Deutschlands. »Sie widerspricht allen Klischees, die Russen von Deutschland haben: dass Deutsche geizig, präzise, übertrieben sauber seien.«
Juris ist übrigens davon überzeugt, dass die meisten der nach Berlin abgewanderten Galeristen wieder zurückkommen werden, »das ist einfach eine Kreisbewegung«. Aber Juris war auch Mönch in Birma, jettet manchmal zu Taschen nach Los Angeles oder mit seiner neuen Freundin nach Kuba, um sie an einem »neutralen Ort« besser kennenzulernen: »Dazu wäre Köln zu gemütlich, die Stadt ist wie Schwimmen in Milch.« Gerade baut er in Riga ein Zentrum für Medizin und Meditation auf. Alvis Hermanis hat er auf einer Parkbank in New York kennengelernt. Seit vielen Jahren sind sie befreundet.
»Die alltäglichen Lebensgeschichten der Menschen kommen meist im Theater nicht vor. Und trotzdem gibt es darin eine Kraft, die sich weiterträgt und die wichtig ist«, fasst Dramaturg Götz Leineweber die Idee hinter der »Kölner Affäre« zusammen. Nicht in einem repräsentativen, soziologischen Sinne, sondern eher in einem »spirituellen«, wie es Alvis Hermanis nennt: Der Regisseur will »Menschen finden, deren Leben eine Stufe der poetischen Verallgemeinerung erreicht hat«. Wichtig ist dabei, weder besonders spektakuläre noch besonders traurige Schicksale auszuwählen, sondern nach einem Zufallsprinzip vorzugehen.
»In Berlin hätte man das wohl nicht machen können, es wäre viel ruppiger abgelaufen«, glaubt Julia Wieninger, die sich, damals ganz neu in der Stadt, auf die Suche nach einem weiblichen Prototyp gemacht hat. Nur wenige Kriterien waren von Hermanis vorgegeben: Auf keinen Fall Künstlerin und nicht verheiratet sollte sie sein, eine gegenseitige Sympathie sollte entstehen. »Ich habe die ersten Frauen auf der Straße angesprochen, die ich traf und versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen«, erzählt Wieninger. Stundenlang unterhielt sie sich mit Politessen, Passantinnen, Museumswächterinnen und Toiletten­­frauen, bis sie die geeignete Person fand. Selten kam ihr eine Erfahrung so bereichernd vor, sagt sie, »ich habe auf einmal gedacht: Wahnsinn, was die Toilettenfrau im ›Päffgen‹ alles sieht und erlebt«.

Über die Frau, die sie schließlich ausgewählt hat, will sie eigent­lich gar nichts erzählen, um sie zu schützen. Nur dass sie weder zu alt noch zu jung ist und nicht im herkömmlichen Sinne arbeitet. Vier bis fünfmal haben sie sich getroffen bisher, »mal bei ihr, mal bei mir«, und stundenlange Gespräche geführt, die Julia Wieninger aufzeichnet: über das Leben, die Liebe, Träume, Ängste, Hoffnungen und Wünsche. »Es geht nicht um besonders tolle Geschichten oder um Voyeurismus«, versucht Wieninger ihre dokumentarische Recherche zu beschreiben. Auf der Bühne wird ihr Prototyp nicht auftauchen, sondern sie sich langsam in die andere Frau verwandeln. »Es ist schon etwas Besonderes: Man ist ja in diesem Fall Schauspieler und Autor zugleich.«

»Auf der Bühne sind vier Zimmer nebeneinander aufgebaut für vier Erzählstränge, in jedem sitzt ein gespielter Prototyp. Vielleicht werden sich die Geschichten wie im Film ›Short Cuts‹ fast unmerklich berühren«, beschreibt Götz Leineweber, das Projekt. Gleichzeitig wird das Bühnenbild Köln zeigen, gerade die typischsten Orte: Domplatte und das Gasthaus Päffgen. Und obwohl sich das alles zwar sehr spannend, aber doch auch ein wenig esoterisch und lokalpatriotisch anhört, ist man sich im Ensemble sicher, dass der Abend neue Blicke in die Stadt werfen wird.


»Kölner Affäre«, UA, R: Alvis Hermanis, Halle Kalk, 4. (P), 5., 8., 10., 11., 13.4., 19.30 Uhr