Perverse Posen

Die Kamera als Auslöser: Errol Morris geht in »Standard Operating Procedure« der Frage nach, was die Fotos von Abu Ghraib verschweigen

Die Bilder sind bekannt: nackte Männer, die zu einer Pyramide aufgetürmt sind. Ein am Boden zusammengekrümmter Mann, der von einer feixenden Frau in Uniform an einem Hundehalsband geführt wird. Die Wärter machen Victory-Zeichen, grinsen in die Kamera. Entstanden sind diese Bilder im Herbst 2003, der Ort ist Abu Ghraib.
Heute sind die Fakten weitgehend geklärt, der Bericht der Untersuchungskommission abgeschlossen und viele der auf den Fotos in Gewinnerpose Abgebildeten mussten Haftstrafen antreten. Einige davon – Sabrina Harman, Lynndie England, Megan Ambuhl und Javal Davis – hat der Dokumentarfilmer Errol Morris (»Fog of War«) für »Standard Operating Procedure« ebenso geduldig wie hartnäckig interviewt. An Schuldbekenntnissen ist Morris dabei nicht interessiert. Der Film versucht in geradezu investigativer Manier zu rekonstruieren, was in Abu Ghraib vor und nach dem knappen Moment geschah, in dem die Blende sich öffnete. Einfach ist das nicht: Der Film und unsere Deutung der Ereignisse bleiben notwendig vom Ausschnitt der Bilder bestimmt.

»Standard Operating Procedure« setzt sich aus mehreren Erzählsträngen zusammen: aus den Interviews und den Fotos, aus erläuternden Grafiken und aus nachgestellten Szenen. Einen ganzen Zellentrakt hat Morris dafür im Studio nachbauen lassen. Diese »Reenactments« – farblich ausgewaschene Nahaufnahmen von nackten, fallenden Körpern in Zeitlupe – sind das eine Ärgernis in diesem Film. Dass an diesem Ort Menschen geschunden wurden, weiß man auch ohne diese »einfühlende« Dramaturgie, die die Gewalt ästhetisiert. Das andere Ärgernis ist der Soundtrack, den Tim-Burton-Komponist Danny Elfman beigesteuert hat und der durchgehend so klingt, als würde gleich Batman um die Ecke gerauscht kommen. Davon abgesehen, gelingt »Standard Operating Procedure« jedoch eine eindringliche Reflexion über die Bilder, die Ereignisse und die mediale und politische Debatte zu Abu Ghraib.

Sein Fazit lautet: Natürlich gab es Verstümmelungen, Schläge und Folter – aber das zeigen die Fotos eigentlich nicht. Was sie zeigen, sind eher Erniedrigungen hilfloser Häftlinge, sind Androhungen von Folter und Tod wie im Fall des »Kapuzenmannes«, dem vorgetäuscht wurde, er werde an einem Elektroschock sterben, sobald er von seinem Podest fällt. Wie man sich als Gefangener fühlt, wenn man sexuell gedemütigt wird, wenn man nackt vor eine Meute wütender Hunde gezerrt wird, ist kaum vorstellbar. Aber all diese Fotos erzählen noch eine andere, kompliziertere Geschichte. Sie erzählen von der Macht des Bildes und von seiner Unkontrollierbarkeit. Die Menschenpyramide, die Daumen-hoch-Gesten, das Zielen auf die Geschlechtsteile der Gefangenen: All das sind Inszenierungen, sind Posen, genau wie die lässig herabhängende Zigarette im Mundwinkel von Lynndie England, eine Rekrutin Anfang zwanzig, die sich in einer Männerwelt und gegenüber ihrem Geliebten und Vorgesetzten Charles Graner behaupten muss.
Ohne die Kamera hätte es diese Posen nicht gegeben, wären die Gefangenen vermutlich nicht auf diese Weise misshandelt worden. Und ohne die Bilder wäre der Skandal genauso wenig an die Öffentlichkeit gelangt. Wie idiotisch muss man eigentlich sein, um seine Verbrechen derart akribisch zu dokumentieren? Doch der Drang, sich seiner Macht im Bild zu vergewissern, visuelle Trophäen zu sammeln und die Opfer durch das Abbild zusätzlich zu demütigen, sind offenbar stärker als alle ethische und praktische Vernunft – wie auch die Rituale gewaltbereiter Jugendlicher, ihre Attacken auf Schwächere mit der Kamera des Mobiltelefons aufzuzeichnen, belegten.

»Standard Operating Procedure« stellt die Frage nach dem Verhältnis derjenigen, die vor der Kamera »posierten«, zu denen, die auf den Auslöser drückten. Wem ist es zuzurechnen, wenn eine Rekrutin für die Kamera einen nackten Gefangenen am Halsband führt? Demjenigen vor oder hinter der Kamera? Lynndie England sagt über dieses Bild, ihr Freund Graner habe sie dazu angewiesen. Morris deckt aber auch auf, dass das Bild bearbeitet wurde: Im Original stand links an der Wand Megan Ambuhl, die, wie England selbst, zu dieser Zeit eine Affäre mit Graner hatte. Er wollte sie schützen, vermutet England, und hat sie deshalb vor der Weitergabe des Bildes einfach herausgeschnitten. Insofern erzählen die Bilder auch von den Erniedrigungen und den Machtverhältnissen, unter denen die Rekrutinnen zu leiden hatten. So viel kann man auch den fotografierten Täterinnen zugestehen, ohne sie von ihrer individuellen Schuld zu entlasten.

Was die Fotos zeigen, ist schrecklich. Die wirklich furchtbaren Dinge aber geschehen im Unsichtbaren, das weiß auch der Film: die CIA-Verhöre mit Todesfolge, die Prügel bis zur Bewusstlosigkeit, das so genannte Waterboarding, bei dem das Ertrinken des Gefangenen simuliert wird. Dass Manadel al-Jamadi im Verhör starb, wurde erst durch den Schnappschuss bekannt, der Sabrina Harman neben dem Toten zeigt. So unerträglich die Abu-Ghraib-Fotos auch sind, so wichtig war es, dass wir sie zu sehen bekommen haben.


Info
Standard Operating Procedure (dto)
USA 08, R: Errol Morris, 118 Min.
Filmpalette, ab 29.5.