Der Wirklichkeitsverdreher

Für Michael Chabon liegt das Heilige Land der Juden vorläufig in Alaska. Und der Messias mit einem Kopfschuss im Hotel.

 

Meyer Landsman ist im Arsch. Früher war er der Star der Polizei von Sitka, ein Bulle mit dem »Gedächtnis eines Verurteilten, dem Mut eines Feuerwehrmanns und den scharfen Augen eines Einbrechers«. Doch seit er sich von seiner Frau getrennt hat, säuft Landsman wie ein Loch, und er lebt auch in einem. »Seit neun Monaten haust Landsmann nun im Hotel Zamenhof, ohne dass es einem seiner Mitbewohner gelungen wäre, sich umbringen zu lassen. Jetzt hat jemand dem Gast von Zimmer 208 eine Kugel in den Kopf gejagt, einem Jid, der sich Emanuel Lasker nennt.«

Meyer Landsman ist Michael Chabons Version von Noir-Detektiven wie Philip Marlowe oder Lew Archer. »Ich liebe Detektivromane. Raymond Chandler, Ross MacDonald – die ganze Hardboiled-Tradition ist einer meiner liebsten Teile der amerikanischen Literatur«, erklärt Chabon im Interview mit der StadtRevue in Köln, der seinen depressiven und vom Sliwowitz benebelten Ermittler allerdings in »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« nicht durch Kalifornien, sondern durch Alaska stolpern lässt. Ein Alaska, das so nur im Kopf des virtuosen Wirklichkeitsverdrehers Michael Chabon entstehen konnte. Es ist eine Parallelwelt: 3,2 Millionen Juden leben dort, seit die US-Regierung ihnen das Bleiberecht eingeräumt hat. In der Regierung Roosevelt wurde eine entsprechende Gesetzesvorlage in den 40er Jahren tatsächlich diskutiert. »Das ist heute völlig vergessen«, sagt Chabon, »Ich habe vor Jahren irgendwo mal davon gelesen, eine kurze Erwähnung nur, aber der Gedanke von Juden in Alaska hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.« Nun lässt Chabon ihn in seinem siebten auf Deutsch erschienen Roman wahr werden. Und lotst den Leser mit bezwingender Beiläufigkeit in eine alternative Realität, in der der Zweite Weltkrieg 1946 mit einem Atombombenabwurf der Amerikaner über Berlin beendet wurde, der Staat Israel 1948 kurz nach seiner Gründung zerbrochen ist und die europäischen Juden stattdessen im eisigen Distrikt Sitka ihr Heiliges Land errichtet haben, in dem Jiddisch Amts- und Umgangssprache ist.

»Der Klang und das Gefühl, die ganze Welt des Jiddischen ist Teil meines Familienerbes«, erklärt Chabon, dessen Vorfahren 1910 aus Weißrussland in die USA immigrierten. »Früher hörte ich meine Urgroßeltern und Großeltern, die ganze ältere Verwandtschaft, ständig Jiddisch sprechen. Sie machten jiddische Witze, lasen jiddische Zeitungen.« Seit dem Holocaust ist die Sprache fast ausgestorben: »Es wird eigentlich nur noch von Mitgliedern ultraorthodoxer jüdischer Gemeinden, zum Beispiel in New York oder Jerusalem, gesprochen.« In »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« heißt ein Ganove nun »gannef« , der verwickelte Kriminalfall »fardrejt« – so wird Jiddisch wieder lebendig. Und sorgt für zusätzliche Würze im ohnehin vor bizarrer metaphorischer Gärung nur so brodelnden Chabon-Sound. Der speist sich seit je zu gleichen Anteilen aus Superhelden-Comics und Vladimir Nabokow. Im aktuellen Roman, erklärt Chabon, sei noch ein weiterer Einfluss bedeutsam geworden. Der von jüdischen Autoren wie George S. Kaufman, der in den 30er Jahren Texte für Marx-Brothers-Filme, aber auch humoristische Prosa schrieb. »Er hatte einen wundervollen Stil. Sehr elegant, mit vielen Anklängen ans Jiddische und überhaupt Slang. Und er war der Meister der merkwürdigen Gegenüberstellung, von hochtrabenden Sätzen, die sehr grob und gewöhnlich enden konnten.«

Eine solche merkwürdige Gegenüberstellung steht im Zentrum des Falles, den Landsman anfangs zusammen mit seinem Cousin Berko Shemets, später gegen den Befehl seiner gerade zur Chefin der Mordkommission beförderten Exfrau Bina, im halsbrecherischen Alleingang ermittelt. Denn das Mordopfer im Hotel ist, so stellt sich schnell heraus, niemand anderes als der Messias selbst. Dafür zumindest wird Mendel Shpilman, der Sohn des mächtigsten Rabbis und Godfather des organisierten Verbrechens von Sitka, zumindest von vielen gehalten. Schon als Kind, so erzählt man sich, soll er Wunder vollbracht haben. Doch irgendwann zerbrach Mendel an den an ihn gestellten Erwartungen. Ließ seine Hochzeit platzen, wurde erst schwul, dann heroinsüchtig und verschwand irgendwann völlig von der Bildfläche.
Der Messias als schwuler Junkie. Dass ein derartig absurdes Plot-Element beim bekennenden Atheisten Chabon weder zur grellen Provokation noch zum Aufsehen heischenden Konstrukt verkommt, zeigt einmal mehr seine überwältigende Imaginations- und Sprachmacht, die sich auf jeder Seite dieses wunderbaren, klugen, traurigen und komischen Buchs offenbart. Neben dem Pulitzer-Preis (2001 für »Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay«) hat sie Michael Chabon auch einige Fans in Hollywood beschert. Schon sein zweiter Roman »Wonder Boys« wurde mit Michael Douglas und Tobey Maguire verfilmt. Jetzt haben sich die Coen-Brüder die Rechte an »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« gesichert. Für den Cineasten Chabon die perfekte Wahl. Wird er sich das Resultat ansehen? Was für eine Frage! »Ich meine, gehen Sie nicht ins Kino, wenn ein neuer Coen-Brothers-Film rauskommt?«


Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten, KiWi, Köln 2008, 384 S., 19,95 Euro