»Männer würden Stunden für einen Orgasmus anstehen«

Chuck Palahniuk erklärt im Interview, warum in seinem neuen Werk »Snuff« der Tabubruch Normalität ist.

Seit sein Roman »Fight Club« 1999 von David Fincher verfilmt wurde, gilt der Amerikaner Chuck Palahniuk, Jahrgang 1962, als Mann für die Extreme. Sein neuer Roman »Snuff« macht da keine Ausnahme. Im Mittelpunkt steht die Porno-Darstellerin Cassie Wright, die ihre Karriere durch einen Weltrekord krönen will: Sex mit 600 Männern vor laufender Kamera. Das wird ihr so schnell keiner nachmachen – vor allem, weil sie plant, beim Dreh zu sterben.

StadtRevue: Mr. Palahniuk, wieviele Leute, denen sie aus »Snuff« vorgelesen haben, sind bisher schon in Ohnmacht gefallen?

Chuck Palahniuk: Noch niemand. Bei der Kurzgeschichte »Vorfall«, auf die Sie wohl an­spielen, waren es damals, glaube ich, 71. Zumindest habe ich danach aufgehört zu zählen. Dort ging es um teilweise lebensgefährliche Masturbationsunfälle, unter anderem spielt dabei der Abfluss eines Schwimmbeckens und dessen Sog­kraft eine Rolle. Inzwischen lese ich das nicht mehr öffentlich vor, nur noch lustige Geschichten, die ich eigens für Lesungen schreibe.

Um Sex und Tod geht es auch in ihrem neuen Roman. Er spielt in der Hardcore-Porno-Industrie, beim Dreh eines »Gang-Bangs«, also einer Gruppensexsze ...

Ja, aber eigentlich war das gar nicht der Ausgangspunkt. Mir geht es immer darum, die Anzahl meiner Figuren möglichst gering zu halten, weil dann die Konflikte zwischen ihnen schöner eskalieren. Langweilige Orte, an denen Leute auf etwas warten, sind besonders gut geeignet. Wartesäle in Krankenhäusern oder Flughäfen. Oder Kirchen. Dort habe ich eine Ansammlung von Leuten, die ich beobachten kann, ihr Aussehen, ihre Gesten. Die Idee, in diesem Fall den »green room«, also den Wartebereich bei einem Massensex-Film zu nehmen, war eigentlich nur eine Methode, um dieses Warten plausibel zu machen. Männer würden Stunden für einen Orgasmus anstehen.

Sie haben mal gesagt, dass die Recherche der interessanteste Teil am Schreiben ist. Wie recherchiert man für einen Roman über Gang-Bangs?

In ganz unterschiedlichen Bereichen. Zunächst habe ich die Umstände aller Filme recherchiert, die in dieser Hinsicht zahlenmäßig Rekorde gebrochen haben. Dann habe ich mich mit Gender-Studies auseinandergesetzt und mit den Legenden über die römische Kaiserin Messalina, die als die Erfinderin des Wettbewerbs bei Gang Bangs gilt. Und das hat mich dann zu weiteren Gebieten geführt, die im Buch eine Rolle spielen: Dildos, aufblasbare Sexpuppen, den Tattoos von Street Gangs. Ich habe Interviews mit Porno-Darstellern gemacht, ich habe akademische Aufsätze gelesen. Nur Pornos habe ich mir nicht angesehen. Die sind langweilig, weil sie alle gleich enden.

Der Roman ist geradezu gesättigt mit historischen Details. Hauptfigur Cassie Wright, die Porno-Darstel­lerin, die vor laufender Kamera eine Gruppensex-Rekord aufstellen will, scheint sehr belesen zu sein. Unter anderem erfahren wir von ihr, dass die aufblasbare Sexpuppe eine Erfindung der Nazis ist. Stimmt das
wirklich?

Soweit ich das bei meinen Recherchen feststellen konnte, ist das wahr. Es war Hitlers Idee, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten beim Militär einzudämmen. Die Puppen sind aber damals noch nicht in Serienproduktion gegangen. Dafür habe ich meiner Fantasie bei anderen Sachen freien Lauf gelassen.

Das Vorbild für Cassie Wright ist Annabelle Chong, eine Pornodarstellerin, die dem üblichen Klischee nicht entspricht.

Stimmt, sie hat unter anderem Jura studiert, hat einen hervorragenden Abschluss in Fotografie, Kunst und Gender Studies gemacht. Von ihr stammt auch die Idee, sich für einen Gang-Bang-Film auf das ausschweifende Leben von Messalina, einer Frau des römischen Kaisers Claudius zu beziehen.

Chong hat die Ansicht vertreten, dass Pornografie entgegen der geläufigen Ansicht eine Möglichkeit zur Selbstermächtigung von Frauen darstellt. Ihr Buch scheint ihr da Recht zu geben. Glauben Sie das wirklich?

Nein, überhaupt nicht. Aber dieses Argument ist eben für die Figur der Cassie Wright sehr wichtig. Außerdem macht es mir immer am meisten Spaß, Figuren zu entwerfen, die ich nicht leiden kann oder mit deren Meinungen ich nicht übereinstimme.

Sie haben eine überwiegend männliche Leserschaft. Sehen sie keine Gefahr darin, dass viele sagen: »Na, dann ist das mit den Pornos wohl gar nicht so schlimm«?

Meine Leserschaft ist gar nicht überwiegend männlich. Und ob sie es glauben oder nicht: Die haarsträubendsten Dinge in dem Buch wurden von Frauen aus meinem Bekanntenkreis vorgeschlagen. Sie meinten, wenn ich schon eine solche Geschichte schreibe, dann dürfen auch die schlimmsten Details nicht fehlen, ob es da nun um Gruppensex geht oder die Enthaarung des Schambereichs mit Wachs. Übrigens stammt auch die Idee für die Figur Sheila, Cassies Assistentin, aus Gesprächen mit befreundeten Schriftstellerinnen. Sie meinten, es müsse bei diesem Thema auch eine weibliche Erzählstimme vorhanden sein. Sheilas Kapitel habe ich ganz zum Schluss geschrieben, aber sie gefallen mir inzwischen am besten.

Grenzüberschreitungen in tabuisierte Bereiche spielen eine große Rolle in ihrer Literatur. Wird das nicht irgendwann langweilig?

Aber genau darum geht es ja. Meine Bücher gewinnen ihren Humor aus extremen Themen, indem sie das, was daran tragisch oder gewalttätig ist, nicht ausschlachten. All diese blutrünstigem, reißerischen Dinge werden als normal dargestellt. Und dadurch werden sie absurd – ungefähr so, wie es für die Götter aussehen muss, wenn sie uns Menschen beobachten.

Chuck Palahniuk: Snuff. Manhattan, München 2008, 288 S., 14,95 Euro