Wirklichkeitstheater

Die antike Tragödie »Aias« markiert den Auftakt zu der Spielplanänderung, mit der das Kölner Schauspielhaus auf den 11. September reagiert.

Alexander Haas und Sandra Nuy sprachen mit Chefdramaturgin Ursula Rühle und »Aias«-Regisseurin Thirza Bruncken über Theater in Kriegszeiten. Nebenbei erfuhren sie, dass Köln tatsächlich nicht Berlin ist.

StadtRevue: Frau Rühle, Generalintendant Günter Krämer bekannte sich nach dem 11.9. in einem Interview zur Tradition eines gesellschaftsbezogenen Theaters und begründete so auch die Spielplanänderung. Wenn wir eine Überprüfung dieses Anspruchs anhand des sonstigen Kölner Angebots vorerst zurück stellen: Was heißt für Sie politisches Theater bezogen auf die Ereignisse, die am 11.9. ihren Anfang nahmen?

Rühle: Mit unserer Spielplanänderung wollen wir untersuchen, welche terroristischen Aspekte im Unterbau unserer Kultur schon permanent anwesend sind. Es kann dabei, das versteht sich eigentlich von selber, nicht darum gehen, einen »Feldzug gegen das Böse« zu legitimieren. Viel eher ist die Frage, was »das Böse« möglicherweise wäre und wie weit es nicht tatsächlich zu unserer westlichen Zivilisation dazu gehört. Diesen Aspekt wollen wir mit den neu aufgenommenen Stücken beleuchten – also »Aias« von Sophokles, »Graf Öderland« von Max Frisch und »Fit for Life«, einem Tanz- und Schauspielprojekt von Joachim Schlömer.

Das ursprüngliche Konzept lautete anders: Der Terror hat das Selbstverständnis westlicher Industrienationen verändert, insofern sei es wichtig »aufs Neue Formen und Prozesse der Identitätssuche in der Gegenwart zu hinterfragen«.

Rühle: Das Konzept hinter den ersten Überlegungen differenziert sich für uns momentan in der Beschäftigung mit den Stoffen. Ich denke man muss Identitätsmuster aufspüren – zum Beispiel terroristischer oder fundamentalistischer Natur –, die verworfen wurden, aber dennoch in kulturellen Unterströmungen existieren. Baudrillard hat eine gute Formulierung gefunden: Der Terrorismus als die Revolution der Antikörper. Der Terror oder »das Böse«, wie Herr Bush es zu nennen beliebt, ist also eine Revolution von Antikörpern, die wir in unserem Körper, unserem Gesellschaftskörper selber haben, und die eben nicht das ganz Fremde, das ganz Andere sind.
Bruncken: Was »Aias« betrifft, kann ich im Thema Identität schon einen Anknüpfungspunkt finden. Aias wird nach einer ersten Extremerniedrigung – im Streit um die Waffen des Achill – vor die Frage gestellt: Wie erfinde ich mich neu? Nachdem er um diese Waffen seiner Ansicht nach betrogen worden ist, entscheidet er sich für einen Völkermord: Er will alle Atriden abschlachten. Zweite Erniedrigung: Das hat nicht geklappt, Athene hat einen Zauber auf seine Augen gelegt, und er hat stattdessen lächerlicherweise Tiere ermordet. Wie erfindet er sich jetzt neu, nachdem er zerstört ist, als der, der er war? Das ist schon eine Frage nach Identität: Die alte Identität geht nicht mehr; in seinem Selbstmord definiert sich Aias neu.

Mit »Aias« wird ein antikes Stück gegen das eines Zeitgenossen getauscht, geplant war Jon Fosses »Traum in Herbst«. Was bieten die antiken Stoffe und Stücke an Potenzial für die Auseinandersetzung mit Terror, Identität und Krise, das den Zeitgenossen fehlt?

Bruncken: Ich finde es ginge zu weit, wenn man sagt: zeitgenössischen Texten fehlt das grundsätzlich. Die antiken Texte haben aus meiner Sicht den Vorteil, dass sie thesenhaft geschrieben sind und als Ideenträger fungieren. Sie stellen Ideen gegeneinander und bieten insofern ziemlich große Denkräume.

Wenn man einmal verkürzt annimmt, die islamische Identität beruhe auf einem intakten Wertesystem und ihr ein »westliches« dezentriertes Subjekt gegenüberstellt – kann es sein, dass solch eine scheinbar feste Identität ein Faszinosum darstellt?

Rühle: Bestimmt. Ich denke, es gibt eine Sehnsucht danach. Das ist allerdings kein »Privileg« des Islam und die These von Kampf oder Konkurrenz der Kulturen führt in die Irre. Auch der Islam ist ja in sich brüchig.

Joachim Schlömers »Fit for Life« wird sich mit dem Thema Körper und Körperlichkeit befassen. Wie sieht die Einordnung in das Konzept hier aus?

Rühle: Wir rüsten uns ja mit aller Macht für ein längeres, besseres Leben. Dagegen scheint sich ein Teil der restlichen Welt für den Tod zu konditionieren. Angesichts dieses Antagonismus mag der Stücktitel komisch anmuten. Aber die Option unserer globalisierten Wissensgesellschaft ist nun mal der fitte, flexible Mensch, und deshalb lautet die Frage: Welche Art von Terror kann die Flexibilisierung sein, die wir uns antun. Nicht zuletzt geht es dabei um die ganzen Fitness-Programme, die bis ins Mentale hinein den bieg- und verbiegsamen Menschen produzieren, der überall einsetzbar ist.

Das Körperthema ist auch insofern relevant, als in den Terroranschlägen der Körper hinter der Technologie verschwindet, besonders in den Medien in eine Virtualität aufgelöst wird.

Rühle: Der Körper wird dabei schon als medial verwendbar kalkuliert. Deshalb haben die Terrorakte so einen hohen Symbolgehalt, weil sie von vornherein auf die Medialisierung spekulieren und wissen, dass sie sofort zum Bild werden, das sich in unsere Gehirne als Schreckensvirus eingräbt.

Frau Bruncken, Sie sprachen von dem Zauber, den Athene Aias auf die Augen legt. Gab es anhand dieser Textpassage Überlegungen, durch Medien-Bilder einen Aktualitätsbezug herzustellen? Das Stück handelt von Krieg, man könnte auch sagen von Terror.

Bruncken: Nein, auf eine derartige Visualisierung, zum Beispiel Bilder von Schlachten zu zitieren, haben wir verzichtet. Das Thema Schlachten aber ist hier ein ambivalentes. Das Wort kommt ja aus der Metzgerei (lacht). Hier werden Tiere wie Menschen geschlachtet. Im herkömmlichen Sprachgebrauch würden wir sagen: Menschen wie Tiere. Hier wird es umgedreht. Das Thema Bilder ist interessant: Was zeigt man, was verdeckt man; wo wird Aias zum Zeigematerial, wo muss er verdeckt werden? Das ist ein starkes Motiv im Stück.

Wenn man Frischs »Graf Öderland« ansieht, fällt die thematische Relevanz im Terrorkontext auf, aber auch eine für Frisch typische Schablonenhaftigkeit...

Rühle: ...er nennt das Stück eine Moritat. Es ist eine Art Märchen. Wie überhaupt das eigentlich Interessante ist, dass im Märchen oder der Moritat Gewalt und Terror permanent vorweg genommen oder modellhaft behandelt werden.

Inhaltlich geht es um den Ausbruch aus einer verwalteten, sinnentleerten Welt. Der Bürger träumt von der Freiheit. Ist so ein Ausbruch noch eine zeitgemäße Utopie?

Rühle: Das ist die letzte Utopie, die wir haben. Ich finde es interessant, dass der Terrorismus hier fast utopisches Material ist. Bei Baader-Meinhof zum Beispiel hat man weniger von Utopie gesprochen...

...der Horizont war, vom Marxismus her gedacht, ein utopischer.

Rühle: Es ging konkret darum, in der Gesellschaft etwas zu zerstören. In der terroristischen Utopie bei Öderland geht es um Selbstverwirklichung, nicht um eine Veränderung der Gesellschaft. Sich als Terrorist zu befreien, ist plötzlich die einzige Utopie, die dem Individuum bleibt.

Am Ende wieder zum Anfang: Aktions- und Äußerungsformen des Theaters im Bezug auf gesellschaftliche Themen, die über die bloße Vorstellung hinaus gehen, sind in Köln selten. Das Paradebeispiel hierfür ist die Berliner Volksbühne. Sollte nicht auch das Kölner Haus ein Diskurs-Plateau in der Stadt schaffen?

Rühle: Das wäre wünschenswert und ist auch ein Traumziel. In der Zeit, in der ich in Köln bin, haben wir das gelegentlich versucht. Doch die Resonanz beim Publikum war mitunter gering. Im Kontext von Lars Norens »Schattenjungs« – übrigens ein Beispiel unter vielen, wo Theater sehr schnell und regional auf eine unglaublich virulente Debatte innerhalb der Gesellschaft [um den Bau forensischer Kliniken, d. Red.] reagiert hat – hatten wir eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion mit Alice Schwarzer und Psychiatern. Aber die Volksbühne ist ein Modell, das nur in Berlin funktioniert. Hier ist Köln.

»Aias« von Sophokles, R: Thirza Bruncken, Schauspielhaus, 28., 30.3.+ 13.-15., 17., 28.4., 19.30 Uhr; 21.4., 16 Uhr. »Fit for Life«, R/Ch: Joachim Schlömer, Uraufführung, Halle Kalk, 5., 8., 9., 11.-14., 25.-27.4., 19.30 Uhr. »Graf Öderland« von Max Frisch, R: Torsten Fischer, Schauspielhaus, Premiere: 22.5.