Beim Belauschen des sozialen Störfalls

Paul Plamper inszeniert mit »Ruhe I« ein begehbares ­Hörspiel im Museum Ludwig

Die Treppen hoch ins erste Obergeschoss, links vorbei an der Ausstellung »Looking for Mush­rooms« und dann rechts abbiegen. Etwas versteckt im Obergeschoss tritt man in einen ab­getrennten Raum ein, dessen schwarz-weiß-graue Szenerie neu­tral, kühl und irgendwie cool wirkt: dunkle Tische mit Stühlen auf einer leicht angeschrägten Fläche, die Kopfwand leuchtet matt, als trübe Milchglas den Fensterblick nach draußen. Das Auffälligste sind die auf den Tischen platzierten Lautsprecher. Im Raum liegt leises Stimmengewirr, Restaurantatmosphäre. Man wird angezogen von den schwarzen Boxen, folgt bald gebannt einem Tischgespräch, taucht in ein anderes, und noch eins, entdeckt Zusammenhänge – der Sog ist magisch.

Paul Plamper, der »Ruhe I« als Koproduktion von WDR und Museum Ludwig entwickelt hat, vertraut dem Hören und der Geschichte im Kopf. »Ruhe I« ist keine Bebilderung, keine szeni­sche Illustration. Es ist ein Experiment mit der Möglichkeit, an die Stelle einer linearen Geschichte Gleichzeitigkeit, ein akustisches Nebeneinander, eine komplexe Erzählsituation zu setzen. Mit minimalen Mitteln hat der 1972 geborene Berliner Hörspielmacher eine räumliche Struktur geschaffen, in der sich der Hörer frei bewegen kann, durch Nähe und Distanz seine Position selber bestimmt, verändert, akustische Perspektivwechsel vornimmt – und so aus lauter kleinen Sequenzen sein eigenes Hörspiel sampelt. Dass er dabei Teil des Geschehens wird, unterstützt Plampers Thema perfekt: Wie reagiert eine soziale Gruppe auf eine Gewaltszene?

Vom Zuschauer zum sozialen Wesen

Plötzlich lässt ein dumpfer Schlag, ein Ereignis »draußen«, die Gespräche verstummen. Ein Moment der Stille, des Zögerns, der Möglichkeit entsteht. Ein­greifen? Raushalten? Abwarten? Plamper skandalisiert nicht den Vorfall selbst (ein sich prügelndes Paar), ihn interessiert die Grauzone, der Moment der Ruhe als Politikum. Das Phänomen »Verantwortungsdiffusion«, erzählt er, beschäftige auch die Sozialpsychologie: Je mehr Leute zuschauen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift. »Es ist wie eine Art Kartenhaus, die Leute lehnen sich in ihrer Nicht-Reaktion aneinander an.« Die dramatische Hörspiel-Umsetzung fächert diese Situation auf und zeigt die Interpretations­weisen, Ausflüchte, Mutanwandlungen, Ängste jedes Einzelnen.

Plamper hat so erfrischend und punktgenau gearbeitet, wie man es von seinen bisherigen Radioarbeiten – erwähnt sei stellvertretend »Hochhaus« – kennt. Die Gespräche, nach Vorgaben improvisiert mit Laien und Profis (u.a. Martin Wuttke, Bastian Pastewka, Caroline Peters, Matthias Lilienthal, Kasper König), wurden geschnitten und montiert, bis es stimmt. Jeder Tisch ein Mini-Hörspiel: Die drei Business-Leute, die kurz ihre Wichtig-Telefonate unterbrechen, Tisch 6, der sich in betroffenen Selbstanklagen ergeht, das streitende Studentenpärchen, das sich über das mögliche Einschreiten weiterstreitet. Oder jenes Grüppchen, das Plamper »die andere Verrohungsliga« nennt: die Jugendlichen, die im Berlin-Marzahn-Jargon über den Vorfall witzeln und ihre Handys zücken um Filmchen zu drehen. Kennen wir alles, aber Plamper gelingt der Kunst-Umkehr-Effekte: das Alltägliche blickt fremd zurück.
Den Praxistest hat »Ruhe I« inzwischen auch bestanden: Die Museumsbesucher lieben es, berichtet die Kuratorin Julia Friedrich, konzentriert sitzen sie an den Tischen und kriechen fast hinein in die Lautsprecher. Von wegen Überforderung – die Skeptiker »anspruchsvollerer« Formate in den Schaltzentralen der Medien könnten sich hier überzeugen, dass man Geschichten nicht immer geradeaus erzählen und mit netter Musik unterlegen muss: Die Quote stimmt.
Als Fazit drei Glückwünsche: an den Hörspielarchitekten Plamper, an Museumsdirektor Kasper
König, der dessen Arbeit im Kunstkontext präsentiert, und an die Dramaturgin und Redakteurin Martina Müller-Wallraf, die beim WDR hartnäckig die Freiheit des experimentellen Hörspiels verteidigt. Für die Radiosendung »Ruhe I«, die der WDR im Dezember an zwei Terminen ausstrahlt, wird eine um Reportage-Elemente und eine Dokumentationsebene erweiterte Hör-Fassung von 40 bis 50 Minuten entstehen.

»Ruhe I« im Museum Ludwig,
Di-So 10-18 Uhr, bis 25.1.2009
Sendetermine: 15.12., 23.05 Uhr
(WDR 3 open) und 23.12., 23 Uhr
(WDR 1LIVE Plan B soundstories)


Zur Person:

Paul Plamper, geboren 1972, ist Hörspielmacher und Theaterregisseur und lebt in Berlin. Seine Produktion »TOP HIT leicht gemacht« (WDR/NDR 2002) wurde mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Im Berliner Palast der Republik inszenierte er 2005 auf 3.000 Quadratmetern eine 8-Kanal-Toninstallation im Rahmen der Ausstellung »Der Berg«. Seit 2005 kuratiert er im Berliner HAU die Reihe »Die Hörspielzentrale« und am Theater Freiburg den »Hörspielpark«. Mit »Hochhaus« war er 2007 in der WDR-Hörspielreihe erstmals im Museum Ludwig zu Gast.