Foto: Manfred Wegener

Wenn »Wallraffen« Schule macht

Der Schriftsteller Günter Wallraff veranstaltet mit Schülern der Hauptschule Buchheim eine Schreibwerkstatt. Zusammen wollen sie ein Buch ver­öffentlichen

Als weltweit bekannter Enthüllungsjournalist ist er sogar in skandinavischen Wörterbüchern ver­ewigt. Mit »Wallraffen« bezeichnet man im Schwedischen eine verdeckte Recherche. Wenn Günter Wallraff nun in einer Kölner Hauptschule unterwegs ist, könnte man denken, der mittlerweile 66-Jährige mische sich undercover unter die Schüler, um Missstände im Bildungssystem aufzudecken. Doch weit gefehlt. Wallraff unterstützt eine Schreibwerkstatt für Schüler. Angeleitet von einem Team aus Pädagogen und Journalisten arbeiten die Jugendlichen an der Hauptschule Köln-Buchheim an einem Buch. Sie verfassen eigenhändig Texte und gestalten das Layout mitsamt Fotos und Zeichnungen.
Das Werk mit dem Arbeits­titel »Träume, Realität und Chancen« möchten die Schüler im Juni der Öffentlichkeit vorstellen. Im Herbst soll es im Buchhandel erhältlich sein. Wallraff, dessen Enthüllungsreportagen in 33 Sprachen übersetzt wurden, begleitet die Aktion – in den Vordergrund spielen möchte er sich aber nicht: »Ich liefere hier und da ein paar Anregungen. Es soll aber ein Werk der Schüler selbst sein«, erklärt er. Den Organisatoren und ihm gehe es darum, sprachliche Verständigung zu fördern: »Viele Kinder sind voller Geschichten, haben aber sprachliche Defizite. Da müssen wir helfen.«
Heute besuchen ihn die Schü­ler in seinem Atelier in Ehrenfeld. Als Wallraff in Kapuzenpulli und mit einigen losen Blättern unterm Arm den Hinterhof betritt, erwarten ihn die rund dreißig Schüler schon. Zuvor haben sie bereits Hof und Atelier erkundet. Die Jugendlichen zeigen keinerlei Berührungsängste und überhäufen Wallraff mit Fragen. Vor allem die Sammlung ungewöhnlicher Steine im Hof weckt ihre Neugier: Ständig zückt einer sein Handy und macht Fotos. Warum er die denn sammle, will eine Schülerin wissen. »Damit habe ich in einer Zeit angefangen, als ich die Menschen satt hatte.«
Schnell ist klar: Der heutige Besuch wird keine trockene Deutschstunde mit einem trockenen Deutschlehrer. Wallraff geht auf die Kinder ein, beantwortet ihre Fragen und erzählt von sich, seinen Steinen und der Welt, in der er lebt. Die Schüler folgen ihm aufmerksam. Der knorrige alte Mann und seine direkte Art kommen gut an.
Die Kinder präsentieren, was sie bisher getextet haben – insgesamt zwanzig handbeschriebene Seiten. Selbst vorlesen möchte allerdings niemand – auch der elfjährige Ibrahim nicht: »Meine Geschichte ist noch nicht gut«, sagt er entschuldigend. Wallraff nimmt das Manuskript und liest, dann lässt er die Seiten auf den Tisch fallen und sagt: »Doch, die ist stark. Ich lese mal vor.« Die Geschichte handelt davon, wie Ibrahim auf dem Schulweg von Älteren bedroht wird und davonläuft. Sie ist nur wenige Sätze lang, aber die klare Sprache imponiert Wallraff: »Eine Short Story im Stile Hemingways«, adelt er den Text. Die restlichen Schüler klatschen.
Die 13-jährige Vahida hat eine fiktive Geschichte über einen jungen Mann geschrieben, der mit seinem neu gekauften Motorrad verunglückt und stirbt. Der Text ist komplett gereimt – ein Rap-Stück mit markigem Vokabular und einer ordentlichen Prise Dramatik. Wallraff ist beeindruckt: »Du hast Talent, Mädchen!« Andere Geschichten handeln von Liebe und Freundschaft, von Mobbing in der Schulklasse und von Schulnoten. Gleich mehrere Schüler berichten davon, wie sie und ihre Familien ihr Heimatland verlassen mussten. Einer von ihnen ist der fünfzehnjährige Sibar. Seine Familie flüchtete vor acht Jahren aus dem Irak, weil sie zu einer religiösen Minderheit gehörte. »Ich schreibe, was ich gefühlt habe, als ich meine Heimat verlassen musste, und wie sich mein Leben verändert hat.« Wall­raf macht ihm Mut: »Ein ganz wichtiges Thema.«
»Schreibt einfach alles auf«, gibt Wallraff den Schülern zum Abschluss noch mit auf den Weg, »wir können nachher immer noch kürzen.« Die Arbeit mit den Nachwuchsliteraten macht ihm spürbar Freude. Und seine Begeisterung für die Texte ist nicht bloß Pädagogik: »Was die Schüler hier machen, das ist noch nicht von Regeln versaut, das ist spontan, unbefangen und damit noch eindringlicher.« Auch die Jugendlichen sind fasziniert von dem kauzigen Erwachsenen. »Mit dem kann man gut reden und er hat immer was zu erzählen,« sagt die 14-jährige Michelle nachher. »Und er sieht lustig aus«, ergänzt die drei Jahre jüngere Tyra. Und das ganz ohne Maskerade.