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»Zu beten ist für bestimmte Kreise schlimmer als Pornos anzugucken«

In seinem neuen Buch »Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime« präsentiert der Kölner Autor Navid Kermani den Islam als einen anderen Teil der Mehrheitsgesellschaft. Miltiadis Oulios sprach mit ihm über literarische Vorbilder, Alkohol in Teestuben und seine Kindheit im persischen Elternhaus.

StadtRevue: Wenn es in Deutschland um Muslime geht, denken gleich alle an türkische Einwanderer. Nervt Sie das als Deutsch-Iraner?

Navid Kermani: Nee, überhaupt nicht. Es nervt mich vielmehr, dass dabei immer die gleichen Bilder gezeigt werden. Ich finde es sehr problematisch, dass man die Leute ständig über den Islam definiert, dass alle Migran­ten plötzlich Muslime sind.

Warum ist das gefährlich? Die muslimischen Einwanderer sehen sich schließlich selbst auch als Muslime.

Weil wir eine Bevölkerungsgruppe nur durch ihre Religion definieren. Die Religion ist ein wichtiger Bestandteil und in vielen Fällen prägend, aber wir drücken auch die sozialen Probleme immer mehr in einem kulturellen und religiösen Vokabular aus. Das finde ich bedenklich.

Sind die Einwanderer aber nicht auch selbst dafür verantwortlich, weil doch viele Verbände sich immer noch national und ethnisch oder religiös organisieren?

Ja, eben. Ditib ist ein türkischer Verband und das könnte man für andere Verbände auch sagen. Die Migranten selbst beziehen sich viel stärker auf ihre nationale Herkunftskultur als auf eine gemeinsame islamische Umma. Meine iranischen Eltern haben mit türkischen Einwanderern so wenig zu tun wie mit polnischen.

Man könnte aber auch sagen: Endlich nimmt man die Muslime im Land ernst und erkennt sie mit ihrer Religion an.

Aber wie darüber gesprochen wird, das ist zum Teil ein hysterischer und fundamentalistischer Diskurs. Dann heißt es »Wir« und es wird eine Homogenität der deutschen Kultur behauptet, die überhaupt nicht stimmt. Und es wird eine Homogenität der Migrantenkultur behauptet, die auch nicht existiert. Dabei schleicht sich eine fundamentalistische Denkweise ein, in der soziale Probleme religiös begründet werden. »Die sind so, weil sie Muslime sind.« Oder umgekehrt: »Die lassen uns hier nicht rein, weil sie eben christlich sind.«

Es gibt aber nun mal gewalttätige Koran-Zitate genauso wie es Gewalt im Christentum gibt.

Ein Großteil dieser Gewaltverse, die oft
in Zeitungen stehen, habe ich als Kind nie
kennen gelernt. Jetzt kann man sagen,
das war ein falsches Bild vom Islam. Gut, aber mit diesem Bild vom Islam bin ich groß geworden. Und bei vielen Christen ist es nicht anders. Eine christliche Erziehung besteht ja auch nicht darin, dass alles er­­zählt wird, was in der Bibel steht. Tradition besteht gerade darin, dass sie das Wort nicht nackt gelten lässt, dass sie auswählt, filtert, vermittelt. Wenn man aber einzelne Verse aus dem Kontext heraus nimmt und sagt, das steht aber im Koran und das musst Du so meinen, weil Du Muslim bist, dann ist das dieser fundamentalistische Zugriff, der sich fatalerweise auch bei Nicht-Muslimen etabliert.

Viele Leute sehen auf der Straße den türkischen jungen Mann, der ihnen zu machomäßig rüberkommt, oder die vollverschleierte Frau und sagen: Das hat mit dem patriarchalen Islam zu tun und deswegen habe ich ein Problem mit dieser Religion. Und jetzt sagen Sie: Ich bin aber auch Muslim.

Es ist wahr, in diesem Buch gebe ich zu erkennen, dass ich Muslim bin. Und ich möchte dazu beitragen, dass der Islam in seiner Vielfalt wahrgenommen wird. Dass Islam in Euro­pa nicht nur mit den Halbstarken oder Vollverschleierung zu tun hat. Bei denen sträuben sich mir manchmal auch die Haare.

Und was tun Sie dann?

Ich lebe am Eigelstein und ich habe hier noch nie eine jener vieler Frauen in Burka gesehen, von denen andere Kölner so lebhaft in den Medien zu berichten wissen. Wo ich schon mal reagiere, ist zum Beispiel, wenn ich ein fünfjähriges Mädchen mit Kopftuch sehe. Dann habe ich schon mal den Vater im Gemüseladen angesprochen. Wo bitte schön steht im Koran, dass kleine Mädchen Kopftuch tragen sollen? Das ist eine freie Entscheidung, der Koran überlässt es den Menschen. Die Voraussetzung für diese Entscheidung ist aber, dass die Menschen mündig sind, sonst ist es Zwang. Abgesehen davon wird am Eigelstein in den meisten Teehäusern auch Alkohol ausgeschenkt. Da haben wir weniger das Problem des islamischen Fundamentalismus, als vielmehr das Problem des islamischen Alkoholismus. (lacht)

Viele Linke oder säkulare Deutsche haben wiederum ein Problem damit, wenn Sie sagen, ich bin Muslim. Denn die würden selber nie sagen »Ich bin Christ«. Was ist das muslimische an Ihnen?

Zunächst mal, ich bete. Ich weiß, das ist für bestimmte Kreise schlimmer als zu sagen ich gucke mir Pornos an. Aber ich bin aufgewachsen mit dieser Kultur. Ich weiß, welche Verbrechen im Namen dieser Kultur geschehen, gerade im Iran. Einschließlich Gefängnis und Hinrichtungen, die wir in unserer Familie hatten. Aber ich bin in einer muslimischen Familie aufgewachsen, in der der Islam nicht besetzt war mit Autorität, mit Zwang, mit Beengung. Sondern im Gegenteil: die Religiösen unter meinen Verwandten waren die, die ein Auge zugedrückt haben. In ihrer Güte waren sie für mich Vorbilder. Sie beteten, aber niemals zwangen sie uns Kinder oder überhaupt jemanden zum Gebet.

Sie sprechen gerne von den Schätzen der islamischen Überlieferung. Welcher dieser Schätze ist Ihr liebster?

Na, wenn ich so gefragt werde, sage ich, mein größter Schatz ist Kafka. Oder Büchner. Oder Jean Paul. Ich bin schließlich vor allem anderen mit deutscher Literatur aufgewachsen. Aber auch der Koran und die islamische Literatur sind ein Teil meines Archivs, über den ich glücklich bin. Ich bin mit einer Religiosität großgeworden, die mystisch geprägt war. Unsere Säulenheiligen waren Dichter wie Rumi und Hafis, das waren die religiösen Bezugsgrößen. Die islamische Poesie im persischen Elternhaus.

Sie nehmen an der Islamkonferenz des Bundes­innen­ministeriums teil. Haben Sie nicht das Gefühl, dadurch eine Alibifunktion einzunehmen, damit man den anderen Muslimen sagen kann: So lange ihr nicht so seid, könnt ihr keine Gleichstellung erwarten?

Die Islamkonferenz ist zunächst mal ein großartiges symbolisches Ereignis. Der deutsche Innenminister sagt, der Islam ist ein Teil Deutschlands. Dieser banale Satz ist Otto Schily acht Jahre lang nicht über die Lippen gekommen. Jetzt redet der deutsche Staat mit Muslimen. Da sitzen ja nicht nur angebliche Alibi-Muslime wie ich. Dort sitzen auch die Verbände.

Und Islam-Kritiker. Die Deutschen Bischöfe würden sich sicher nie mit Eugen Drewermann an einen Tisch setzen. Welchen Effekt hat diese
Konferenz?


Die Vertreter des Staates nehmen wahr, dass der Islam vielfältig ist und auch aus Leuten wie mir besteht. In deren Namen weder die Verbände noch die Islamkritiker sprechen. Ich würde mal sagen, dass die Mehrheit der Muslime so gewöhnliche Leute sind wie ich. Die eine Loyalität zur Kultur empfinden, aber nicht jeden Freitag in die Moschee gehen und vieles kritisch sehen, was im Namen des Islams geschieht.

Wenn Deutschland eine Fußballmannschaft wäre, wer wären die Muslime?

Wenn man ins Kulturleben schaut, dann würde ich mal sagen: Stürmer. Das bezieht sich allerdings nicht nur auf die Muslime. In der deutschen Literatur oder der Kunst sind einige der aufregendsten Stimmen heute Menschen, die nicht-deutsche Eltern haben. Sie bringen der deutschen Kultur etwas von jener Weltläufigkeit, jener Vielfalt zurück, die sie bis in die zwanziger, dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts ausgezeichnet hat.