Stimme und ­Papier

Es gibt wohl kaum ein literarisches Phänomen, an dem sich derart die Geschmäcker scheiden, wie an der Spoken-Word-Bewegung. Für die einen mobilisiert sie – vor allem im lyrischen Bereich – ein enormes Wiederbelebungspotential für eine zunehmend kryp­tischer und damit unzugänglicher gewordene Spezialisten-Gattung. Die anderen kritisieren das Zurücktreten komplexer Inhalte hinter Applaus heischender Performance und würden die Slam Poeten am liebsten zu den Stand-up-Comedians stecken.

Beide Positionen sind nachvollziehbar, treffen die Sache aber nicht so ganz. Das zeigt sich wohl am deutlichsten an den Hybrid-Gestalten der Szene – also an denjenigen, die sich in beiden Bereichen souverän bewegen: Der »Performance Poetry« und dem poetischen Sprechen »traditioneller Spielart«. Poeten also, deren Tex­te sowohl auf dem Papier funktionieren als auch auf der Bühne enormes Potential entfalten.

Nora Gomringer ist so eine Gestalt. Das beweist sie erneut mit ihrem dritten Gedichtband »Klimaforschung«, der gerade im Dresdener Verlag Voland & Quist erschienen ist. Und es ist ein Glück, dass der Verlag dem Band eine Audio-CD beigegeben hat, auf der sich sämtliche Texte von der Autorin gelesen finden. Man kann mit Auge und Ohr den Funktionsweisen der Texte nachspüren, sie lesen und zugleich miterleben, wie das Gedruckte sich im Vortrag verwandelt, die Stimme immer wieder den Text aufbricht, vorantreibt, ironisiert, ergänzt.

Nora Gomringer, Tochter des berüchtigten Experimentalpoeten Eugen Gom­ringer, wurde 1980 in Neunkirchen/Saar geboren, wuchs im Oberfränkischen auf und lebt heute in Bamberg – einem eher ungewöhnlicher Aufenthaltsort für junge Autoren, die erfahrungsgemäß eher in nord-östliche Richtung streben. Was Bamberg an Urbanität vermissen lässt, holt die Liste ihrer Auftrittsorte der letzten Jahre mehr als ein: Sie reicht über Rom, Paris und Peking bis Nowosibirsk, in diesem Jahr folgen Aufenthalte im Literarischen Colloquium Berlin und ein Residenzstipendium im Ledig House, New York.
»Klimaforschung« versammelt neue Gedichte sowie älteres Material, das hier erstmals Platz in einer fein komponierten Sammlung findet. Denn das ist dieser Band ohne Zweifel: Nicht nur bemerkenswert der einzelnen Texte wegen, sondern auch, weil durch das Zusammenspiel der 64 Gedichte und einiger Prosaminiaturen ein intensiver Spannungsraum entsteht. Das »Klimatische« als Leitmetapher erweist sich als sehr treffend, geht es der Autorin ganz offensichtlich nicht um strenge lyrische Landvermessung, sondern um das Bewegte und Bewegliche: eine gesteigerte »Wetterfühligkeit« bei der Betrachtung der Außenwelt – und der inneren Reaktionen, die sich damit verbinden.

Trotzdem ist »Klimaforsch­ung« alles andere als ätherisch, sondern auf bestechende Weise sinnlich und konkret. So wird die Betrachtung eines noch schlafenden Paars am frühen Morgen als arktische Dämmerungsszene beschreiben (»Eine Eisscholle / Die in der Welt treibt / Bis es Licht wird / Und Lärm gibt / Der die Robbenleiber / Zu Menschen schmilzt«) oder die »Beziehungsverhandlung« im Gedicht »Für unsere Innigkeit« mit außenpolitischem Vokabular geführt: »Du sagst / Dass es einen Ort / Zwischen meinen Beinen gibt / Der Diplomatie verlangt ...«. Neben solch kurzen, sprachlich reduziert gehaltenen Gedichten finden sich überbordende Langtexte, die ihre volle Wirkung tatsächlich erst im Vortrag entfalten. Was für ein Naturereignis die »Klimaforschung« auf der Bühne ist, kann man im Juni im Jungen Literaturhaus erleben, wo Nora Gomringer zu Gast sein wird. Die jahrmarkthafte Ankündigung aus einem der Gedichte – »Ich mache jetzt etwas mit der Sprache / Werde jetzt etwas ganz Bestimmtes, Besonderes mit / der Sprache / machen / Da werden Sie staunen« – darf durchaus ernst genommen werden.

Nora Gomringer im Klub Junge Literatur: Di 2.6., Raketenklub, Weidengasse 21 (Hinterhof), 20 Uhr
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