Sturm auf die Paläste

Schüler und Studenten gehen aus Wut über die Lernbedingungen auf die Straße. Jörg Kronauer über die fünf größten

hoch­schulpolitischen Irrtümer der letzten Jahre

Patrick Schnepper ist mit dem »Bildungsstreik« zufrieden. »Es war ein Erfolg«, freut sich der Aktivist vom Landes-Asten-Treffen NRW, der Mitte Juni die Protestwoche in NRW gegen die deutsche Bildungspolitik mitorganisiert hat. Bundesweit gingen über 260.000 Studierende und Schüler auf die Straßen, um ihrem Unmut über die Lage an den Schulen und Hochschulen Luft zu machen. Auch in Köln demonstrierten mehr als 6.000 Menschen. »Die Botschaft kam in der Öffentlichkeit an«, urteilt der hiesige Asta: »So wie es ist, kann es im Bildungssystem nicht weiter gehen!«

In der Tat: Die Ansicht, dass es mit dem deutschen Bildungssystem so nicht weitergehen kann, macht seit Jahren die Runde. Was die Hochschulen betrifft, sind die Kritikpunkte immer wieder dieselben. Vor allem fünf Übel sorgen für Protest.

Die Studienbedingungen sind miserabel
Seit Jahrzehnten beklagen sich Studierende über vollgestopfte Hörsäle und überfüllte Seminare. »Ursachen: Schlechte Studienbedingungen«, schrieb die Berliner Zeitung über den Hochschulstreik im Wintersemester 1988/89. »Ursachen: Immer noch miserable Studienbedingungen«, erläuterte das Blatt die Unistreiks 1993. »Hauptgrund sind die Studienbedingungen«, antwortete im Juni 2009 der Präsident des Deutschen Studentenwerks auf die Frage, was den Hochschulprotest denn vor allem antreibe. Solange die Bildungs­etats zugunsten von Industriesubventionen und Militärhaushalten vernachlässigt werden, kann sich daran auch nichts ändern. Der Versuch, die Studierenden selbst durch Studiengebühren für bessere Bedingungen zur Kasse zu bitten, scheitert zur Zeit grandios. De facto ersetzen die Gebühreneinnahmen meist nur staatliche Einsparungen, wenn sie nicht gleich ganz zu fremden Zwecken verwendet werden – etwa, wie in Münster, zur Kapitalstockbildung für eine Uni-Stiftung.

Die Gebühren sind ungerecht
Die Studiengebühren verbessern nicht nur kaum, sie schaden eher – jedenfalls dann, wenn man die primäre Aufgabe der Hochschulen nicht darin sieht, Studienplätze und damit künftige Elitejobs für den Nachwuchs wohlhabender Akademiker zu reservieren. Studiengebühren, die in zehn von 16 Bundesländern erhoben werden, schrecken junge Menschen aus ärmeren Milieus vom Studium ab. Dabei hat erst kürzlich eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nachgewiesen, dass die soziale Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft ohnehin seit Jahrzehnten stagniert – auf erschreckend niedrigem Niveau. Der Asta der Uni Köln fordert daher auch ein »gebührenfreies Studium«.


Die Bologna-Reform ist gescheitert
Auch die stark reglementierten neuen Bachelor- und Masterstudiengänge, die im Zuge der Bologna-Reform entstanden sind, sorgen keineswegs für eine Verbesserung. Zum einen sind sie extrem verschult und lassen der individuellen Entfaltung kaum Raum. Wer sich sein Studium mit Erwerbsarbeit selbst verdienen muss, gerät zudem mit den strikten Anwe­sen­heits­pflichten in Konflikt. Die rigiden Rahmenbedingungen »stehen auch zeitintensivem sozialem oder politischem Engagement im Weg«, sagt Patrick Schnepper. Als Folge geht die Entwicklung hin zum unindividuellen, wenig an gesellschaftlichen Fragen interessierten Fachexperten. Das Humboldtsche Ideal des zur Kritik befähigenden studium generale wird damit wohl endgültig beerdigt.

Drittmittel der Industrie gewinnen an Bedeutung
Zumal das Hochschulgeschehen in zunehmendem Maße nach Kriterien der Wirtschaft gestaltet wird. Mit den jüngsten Hochschulreformen ist der Einfluss von Privatfirmen auf den Wissenschaftsbetrieb deutlich gestiegen. Drittmittel der Industrie gewinnen weiter an Bedeutung – und wer zahlt, bestimmt bekanntlich die Musik. Privatfirmen jedoch verfolgen private Gewinninteressen, die mit gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen keineswegs über­einstimmen müssen. Dass ihnen dafür die aus Steuermitteln – wenn auch schlecht – finanzierten Hochschulen zur Verfügung gestellt werden, stößt nicht überall auf Begeisterung. Protest erregt hat erst kürzlich ein geheimes (!) Kooperationsabkommen, das der Bayer AG den Zugriff auf bestimmte Bereiche der Kölner Uniklinik eröffnet.

Keine Demokratie in Hochschul­gremien
Das gilt auch für den Wirtschafts­einfluss in Hochschulgremien. Früher beklagten sich Studierende, dass die Professorenschaft stets über sichere Beschlussmehrheiten verfüge. Mit den neuen Hochschulräten ist dieses Privileg gebrochen – allerdings nicht im Sinne von mehr Demokratie. So gehören dem Hochschulrat der Uni Köln, der etwa den Rektor wählt, Vorstandsmitglieder der Bayer AG und der Deutschen Bank an, aber keine einzige Studentin.

»Wir fordern, die Ökonomisierung des Bildungssektors umgehend zu stoppen«, erklärt denn auch der Kölner Uni-Asta. Und die Studierenden kämpfen weiter. »Wir wollen den Protest auch im Wintersemester auf die Straße bringen«, bekräftigt Patrick Schnepper. Auf dass die Berliner Zeitung im Jahr 2020 nicht schreiben muss: »Hochschul­streik. Ursachen: Bitte greifen Sie auf unsere Berichterstattung vom Winter 1988/89 zurück.«