30 Jahre Talentprobe

Vor dreißig Jahren startete mit der »Talentprobe« am Tanzbrunnen ein früher

Vorläufer heutiger Casting-Shows. Ende August kamen die Teilnehmer der ersten Show wieder zusammen und sahen sich die alten Filmaufnahmen an, die bald in einer WDR-Doku­mentation zu sehen sein werden. Martin Klein über enthemmtes Publikum, gespannte Oberhemden und gezielte Persönlichkeitsvernichtung.

Am 27. Juli 1979 lässt der junge Fernseh­autor Peter Goedel vier 35-mm-Kameras am Kölner Tanzbrunnen aufbauen, um auf Schwarzweiß-Film ein merkwürdiges Ritual festzuhalten: Ein älterer Herr mit spärlichem Haupthaar, kompaktem Bäuchlein und gespanntem Oberhemd steht auf der Bühne und versucht sich als Moderator. Unklar bleibt, ob seine Conference parodistische Züge trägt oder einfach nur so nachlässig ist wie seine Garderobe. Die Künstler, die er launig ankündigt (»Ich wusste gar nicht, dass es so viele Tonarten gibt«), sind wesentlich jünger als er und sehen – im Rahmen der 70er-Jahre-Ästhetik – bedeutend schärfer aus. Sie erinnern optisch an die Baader-Meinhof-Gruppe oder an Ikonen des französischen Films, aber auch an die Hos­sa-Fraktion aus Dieter Thomas Hecks ZDF-Hitparade. Dieser fühlen sich die Amateurkünstler auch hör- und sichtbar verbunden. Die Ergebnisse rangieren irgendwo zwischen Schützenfest und Zumutung.

Ähnlich wie bei vergleichbaren Formaten in der heutigen Zeit setzt sich das Teilnehmerfeld am Tanzbrunnen aus Hausfrauen, Handwerkern, Studen­ten und Arbeitslosen zusammen. Der Unterschied: Die Hoffnung auf den Durchbruch und eine echte Bühnenkarriere stand für die damaligen Teilnehmer nicht im Vordergrund, sagen sie. Karin, die Siegerin in jenem Juli 1979 jedenfalls beteuert, nie ans Show­geschäft gedacht zu haben. Die Lust am Ausprobieren habe sie auf die Bühne getrieben, sagt Karin, die ihren heutigen Beruf mit Hausfrau und Mutter angibt. »Viele sind in ihre alten Berufe zurückgekehrt, nach dem sie sich bei der Talentprobe versucht haben, aber auf unterschiedlichem Niveau sind auch einige in irgendeiner Form der Musik treu geblieben«, erzählt Regisseur Peter Goedel.

»Hau ab, du Kulturbanause«

Neben Conference und Performance gibt es in seinem 1980 uraufgeführten Film »Talentprobe« gut sichtbar noch eine dritte Komponente, die im Wechselspiel mit den anderen die ganze Chose am Tanzbrunnen bizarr multipliziert: das Publikum. Verkleidete Freaks, deutlich durch die Rocky Horror Picture Show inspiriert oder den Circus Maximus zu Neros Tagen, zelebrieren die Darbietungen auf der Bühne mit Tänzen, Travestie und Spruchbändern: »Das ist ja grausam«, »Kotz!« oder »Hau ab, du Kulturbanause«. Von den vielen Zwischenrufen ist »Ausziehen!« einer der vernehmlichsten in dieser wunderbaren Produktion. Übrigens einer der ersten deutschen Filme in Dolby Stereo – was bei 4000 enthemmten Zuschauern für schöne Effekte sorgt.

Der Filmkritiker und spätere Regisseur Hans C. Blumenberg schrieb damals in der Zeit über Goedels Dokumentation unter der Überschrift »Ein Schlachtfest« von einer »Studie zur gewöhnlichen Einsamkeit in Deutsch­land. Hinter dem makaberen Ritual am Tanzbrunnen wird die Sehnsucht der Akteure spürbar, etwas anderes, etwas Besonderes zu erleben: um beinahe jeden Preis. Denn was das Publikum betreibt, aufgeheizt von den zynischen Kalauern des Conferenciers, gleicht einer gezielten Persönlichkeitsvernichtung.« Blumenberg schließt mit dem Urteil, »Talentprobe« sei »einer der besten (und einer der erschreckendsten) Dokumentarfilme, die es seit langem zu sehen gab.«
Dreißig Jahre später sind 45 Minuten aus Goedels Doku wieder am Ort des Geschehens zu bewundern. Der WDR hatte Ende August eingeladen zu einer Wiedersehensparty. Mit dabei sind alle zwölf Bühnenkünstler, die seinerzeit angetreten waren und nun, drei Jahrzehnte später, wieder auf die Bühne gebeten wurden – um dabei erneut gefilmt zu werden. Wenn auch nur noch mit zwei Kameras und digital, dafür aber in Farbe und sehr clever: WDR-Hörfunkmoderator Manfred Behrens filmte nämlich nun seinerseits die Reaktion des heutigen Publikums auf Goedels alten Film für einen neuen Film. Überdies präsentierte und filmte er die Reaktionen der Künstler auf ihre damaligen Auftritte. Eingefangen hat Behrens Reaktionen von fassungslos (»Furchtbar! Mein Untergang!«) über gefasst historisch-einordnend (»So war die Zeit damals«) bis zu totaler Ignoranz. So trat 1979 der Malermeister Many Lohmer an und glänzte durch komplette Talentfreiheit. Dass das Publikum ihm schon sehr früh riet, sich besser ausschließlich der Malerei zu widmen, wollte er so nicht hinnehmen. Als »Der Jung usem Vürjebirch« tingelt er seither über die Dörfer und bietet seinen Fastelovends-Trash (»Wenn mir Jecke fiere...«) auch 2009 dem Tanzbrunnen-Auditorium feil. Das allerdings reagiert gnädiger als die 79er.

Einfallsreich und phantasievoll, aber nie zynisch

»Das Publikum ist heute nicht mehr ganz so wild«, hat auch Peter Goedel mit einem Anflug von Bedauern festgestellt. Der Regisseur des alten Talentproben-Films ist auch der Produzent des neuen Films über »die älteste Castingshow Deutschlands«, wie das Spektakel von den Machern stolz genannt wird. Moderiert wurde es bis zu seinem Tod 1990 von Udo Werner, seither führt Linus, der selbst einmal Gast in der Show des Vorgängers und Erfinders war, durchs Programm. »Das Publikum der Talentprobe ist einfallsreich und phantasievoll, aber nie zynisch«, meint Regisseur Peter Goedel, der auch Spielfilme wie »Das Treibhaus« nach dem Roman von Wolfgang Koeppen realisiert hat. Nie so zynisch, meint der 64-jährige Regisseur, wie die Juroren von Sendungen wie »Deutschland sucht den Superstar«, bei denen das Publikum eine untergeordnete Rolle spielt und die Talente nur Stichwortgeber sind für die sorgfältig vorbereiteten Demütigungen und Schmähungen durch Bohlen und Co.

Möglicherweise ist das der größte Unterschied zwischen beiden Formaten: Das Publikum am Tanzbrunnen will für seine Unterhaltung selbst sorgen, das DSDS-Publikum will unterhalten werden. Analog zu den zeitgenössischen Unterhaltungsprogrammen, bei denen die Oliver Pochers, Mario Barths und Atze Schröders ihren zahlenden Zuschauern die Witze erzählen, die man unter anderen Umständen auch selbst und besser machen kann.

So übertrieben vor drei Jahrzehnten Blumenbergs Wort von der »Persönlichkeitsvernichtung« in Bezug auf die harmlosen Talentproben wirken mag, so angemessen erscheint der Begriff heute in Bezug auf dass, was die Bohlens und Klums in ihren Casting-shows exerzieren. Nur dass dort weniger die auftretenden Künstler durchs Publikum vernichtet werden, als dass es der Zuschauer ist, der seine Persönlichkeit aufgibt, der für sein Amüsement lieber zahlt als selbst dafür aufzukommen. Dem es dafür offenbar auch völlig an Antrieb und Phantasie mangelt, aus welchen Gründen auch immer. So lassen sich die Shows der privaten Sender tatsächlich auch sehr gut als Studien »zur gewöhnlichen Einsamkeit in Deutschland« betrachten, von der bereits Blumenberg durchaus kulturpessimistisch sprach. Hinter den makaberen Ritualen der Castingshows wird mehr denn je die Sehnsucht vor allem der Fernsehzuschauer spürbar, etwas anderes, etwas Besonderes zu erleben. Um beinahe jeden Preis.

Tausende Talente haben sich in den Talentproben dem Publikum gestellt, nur ganz wenige Namen hat man später noch einmal vernommen: Nicole gewann für uns den Grand Prix, Mary Roos singt immer noch regelmäßig »Eine Liebe ist wie ein Lied« und der »Elvis aus dem Westerwald« ist im August 2009 am Tanzbrunnen so munter wie vor drei Jahrzehnten. »Der lebt davon«, weiß Goedel, der für seinem alten Film auf Interviews verzichtet hatte, zugunsten einer erhabeneren Dokumen­tarfilmschule: »Cinéma direct, das erschien mir passender«, erklärt er.

Der nächste Film des in München lebenden Regisseurs wird »Die Nacht ist nicht zum Schlafen da« heißen und soll das bunte Nachtleben einer Gaststätte und ihrer Bewohner abbilden. Und wer weiß: Vielleicht wird es auch für die Protagonisten des neuen Projektes eine Wiedersehensparty in dreißig Jahren geben, bei der sich alle wehmütig der alten Zeiten erinnern. Ganz wie bei der »Talentprobe«.



Film-Info

Der neue Film über die legendäre Talent­probe, dessen gezeigte Ausschnitte viel Vorfreude auslösten, wird am 14. Januar 2010 um 23.15 Uhr im WDR-Fernsehen zu sehen sein.