Der Lagerkommandant <br>streichelt ein Reh

Das NS-Dok zeigt eine Ausstellung zur Erinnerungskultur: »Amnésia«

Es ist eine Fußnote im Katalog, die einem schlagartig vergegenwärtigt, wie schnell der Faden der Überlieferung reißen kann. Sie erklärt die Herkunft der historischen Fotografien, die Sabine Würich für ihren Beitrag zur Ausstellung »Amnésia« abfotografiert hat: Bilder von Kriegsverletzten, aufgenommen von einer Nonne in den Jahren 1930-1950 im St. Elisabeth Krankenhaus in Köln-Hohenlind; Teil eines Konvoluts von insgesamt 1.248 schwarz-weiß-Fotos. 2004 wurde es dem NS-Dokumentationszentrum von Zivis und Azubis des Krankenhauses übergeben. »Sie hatten das Material vor dem Krankenhaus im Frühjahr 1992 aus dem Müllcontainer geborgen.«

Es mag gute Gründe geben, sich solcher Bilder – Wunden, Verbrennungen, Nähte, Deformationen – zu entledigen, noch bessere, sie als historische Dokumente zu archivieren. Im Falle von Amnésia wurden sie Anregung für eine Ausstellung, der man den beflissenen Untertitel »Ein deutsch-französisches Projekt zur europäischen Erinnerungskultur« am Ende verzeiht. In Zeiten historischer Kurzsichtigkeit ist ihr Ansatz klug: Die Erkenntnis, dass mit einem Gedächtnisverlust (medizinisch: Amnesie) auch die Fähigkeit schwindet, Zukunft zu imaginieren. Entstanden ist eine politische Kunstausstellung, die die dokumentarische Arbeit im EL-DE-Haus, dem ehemaligen Kölner Gestapo-Gefängnis, um die künstlerische Auseinandersetzung mit Krieg und NS-Terror ergänzt. Was nicht zuletzt ein neues Publikum anzieht.

Subjektive Spurensuche und der freie Umgang mit historischem Material, die Übersetzung ins Jetzt – hier zeigen sich die Möglichkeiten und Stärken des künstlerischen Zugangs. Die drei deutschen und zwei französischen Künstler zeigen in den Räumen, die eine offene Ausstellungsarchitektur gliedert, Arbeiten, die allesamt die Balance von Aneignung und Respekt halten. Sabine Würich hat die erschütternden Krankenhaus-Fotos nicht spektakulär inszeniert, sondern eine inhaltlich-formale Auswahl getroffen: Bilder zusammengeflickter Gesichter, die von irreversibler Zerstörung zeugen, von menschlicher Verletzlichkeit, vom »Danach« erzählen. Jedem hat sie eine Landschafts-Fotografie hinzugestellt, Blicke durch Laub, Wald, ein Abhang mit Büschen, ein Bachlauf. Neutrale, geschichtslose Natur? Die Aufnahmen fotografierte sie 2007 in Hürtgenwald, einem der wüstesten Kriegsschauplätze: Tatorte, selber verletzt, über die Gras wuchs. Eine subtile Unterwanderung deutscher (Natur-)Romantik.

Wie Würich gehören alle Künstler zu den Jahrgängen 1950-1970, geprägt durch die Erzählungen von Eltern und Großeltern und die (mangelhafte) »Aufarbeitung« der Nazi-Zeit. Ob biografisch motiviert, zufällig entdeckt oder durch gezielte Recherchen erarbeitet – Themen und Inhalte werden jeweils verknüpft mit künstlerischen Fragestellungen; eindimensionale Polit- und Memorialkunst kommt hier auf angenehme Weise nicht vor. Nicht zuletzt durch ihre Arbeitsweise – Verfremdung, Verschiebung, Umdeutung – befragen sie den Status der Bilder, die Konstruktionen von Bedeutung, von Erinnerung.
Fotografie, assoziiert mit Realitätstreue und Unmittelbarkeit, dient bei Thomas Lohmanns irritierenden, aquarellierten Porträts als Ausgangspunkt. Ebenso bei Markus Döhne, der durch ausgeklügelte Kopier- und Siebdrucktechniken zum gültigen Bild gelangt. »Cinéma«, großformatig, roter und schwarzer Lack – das Häftlingskino des KZ Buchenwald. Auch »Kitz« gehört zu den neuen Arbeiten des Kölners, zweigeteilt, fahles gelb-orange, »der Lagerkommandant Karl Koch mit seinem kleinen Sohn im Buchenwalder »SS-Zoo, ein Reh streichelnd« (Katalog). Grotesk, aufklärerisch, versöhnlich? Es ist ambivalent. Genau das. Döhnes künstlerischem Werk, das akribische Recherchen zum Faschismus des 20. Jahrhundert und aktueller Flüchtlingspolitik begleiten, hat das politische Bewusstsein seines Produzenten nie geschadet.

Die französische Seite ist doppelt vertreten. Eric Monbel, aufgewachsen in der von zwei Weltkriegen gezeichneten Grenz-Region Nord-Pas-de-Calais, setzt seine schlichten schwarz-weiß Zeichnungen dem Pathos heroischer Kriegs-Ikonographie entgegen. Eine Entdeckung sind Pierre Filliquets in nüchterner Sachlichkeit gehaltenen Fotografien der Autopsie-Räume der Universität Strasbourg, die er vor, während und nach dem Umbau aufgenommen hat. Intuitiv und präzise erfasst er Details und Charakter dieses Ortes, an dem die im Keller gelagerten Körperteile von 86 jüdischen Auschwitzhäftlingen untersucht wurden. Die historischen Einzelheiten sind bekannt und entsetzlich, die Fotos zeigen die Räume menschenleer, still, sie legen Zeugnis ab.

Es ist eine sehenswerte Ausstellung. Gerade deshalb verträgt sie den Hinweis auf ein Dilemma, in das man unweigerlich beim Rundgang verstrickt wird. Schon bei Betreten des EL-DE-Hauses erfasst einen die Atmosphäre dieses Ortes so massiv, dass man der Kunst kaum mehr frei gegenübertritt. So vielschichtig die Arbeiten sein mögen, man sucht sofort die inhaltlichen Bezüge, und sie sind – natürlich – immer da. Das der Ausstellung vorzuwerfen, wäre unfair. Die Frage ist eher: Tut der Ort der Kunst gut? Darf man überhaupt so fragen? Womit man im Grundsätzlichen ist: Ist es legitim sich angesichts all des Leids, das dieses Haus mit den Todeszellen im Keller aufgesogen hat, mit ästhetischen Fragen zu beschäftigen? Die Künstler sind ein hohes Risiko eingegangen. Zu Recht, wird sagen, wer an die unbedingte Notwendigkeit der ästhetischen Erfahrung glaubt. Und aus einem Dilemma kommt man eben nicht raus.




NS-Dokumentationszentrum / 
EL-DE-Haus, Appellhofplatz 23-25, Di, Mi, Fr 10-16,
Do 10-18, Sa+So 11-16 Uhr, bis 1.11.;
www.nsdok.de

Sa 26.9., 16 Uhr: Atelierbesuch Markus Döhne, begrenzte Teilnehmerzahl, Anmeldung:
nsdok@stadt-koeln.de
Do 8.10., 19 Uhr: »Kriegsverbrechen
in Frankreich: Geschichte und Aufarbeitung«, Vortrag von Bruno Kartheuser
So, 1.11., 14 Uhr: Finissage. Ausstellungs­rundgang mit Katia Baudin-Reneau (Museum Ludwig) und Karola Fings (NS-Dok)