Unter Garzweiler

Vor den Toren Kölns erstreckt sich ein riesiges Tagebaurevier, in dem nach schätzungsweise 1300 Millionen Tonnen Braunkohle geschürft wird: Garzweiler I und Garzweiler II, zusammen etwa hundert Quadratkilomer groß, was einem Viertel der Kölner Stadtfläche entspricht. Die Baggeranlagen haben eine zerfressene, durchlöcherte, apokalyptische Landschaft hinterlassen. Die Dörfer,

so sie noch nicht untergepflügt sind, stehen leer.

Der Schriftsteller Guy Helminger verarbeitet diese Eindrücke zu einem subtilen Schreckensbild.

Was ist beim Paragliding über Garzweiler passiert? Warum vergeht die Vergangenheit nicht und bricht die Zukunft nicht an? Und wo enden die Wünsche und Sehnsüchte aus der alten Zeit?

Wir kamen aus Höllen, wo wir von der Sophienhöhe gesprungen waren, und Caro sagte: »Das ist der höchste künstliche Berg der Welt.«
Sie sagte das jedesmal, wenn wir unsere Runden im Wind gedreht und wieder sicher auf dem Feld gelandet waren. Keine Ahnung, ob das stimmte, jedenfalls schauten sich Malte und ich nur an, weil wir schon oben gewusst hatten, dass sie das gleich sagen würde. Aber die Sophienhöhe war schon ein Mordsding, wenn man sich vorstellte, dass sie nur aus dem bestand, was beim Braunkohleabbau in der Gegend so übrig geblieben war. Die Bäume, die sie drauf gepflanzt hatten, mal ausgenommen. Aber die waren ja auch ein Problem. Also ich mag Bäume, die anderen auch, aber Gleitschirmflieger brauchen nun einmal eine Schneise, wenn sie loslaufen. Will ja niemand direkt in die Birken hinein. Und nur weil wir ein paar davon gefällt haben, also ich meine, uns deswegen die Sprünge zu verbieten. Wie auch immer, wir machten es trotzdem.

Der Himmel war so gleichmäßig blau, als hätte ein PC ihn gemalt. Und vor diesem Hintergrund glitten wir drei mit bunt gestreiften Schirmen vorbei, drehten ein paar Runden, stießen ins Feld, rafften die Gleitschirme zusammen und eilten zum Parkplatz, um so schnell wie möglich abzuhauen, bevor irgend jemand die Bullen anrief und sich beschwerte. Vier Bäume waren es gewesen, vielleicht fünf, keine Ahnung. Ich frage mich, was sie dem Blitz gesagt haben, der hier vor Jahren die alte Mühle weggeflämmt hatte? Das geht aber nicht! Aber mit uns können sie es ja machen.

»Jetzt komm mal runter, Stan«, sagte Malte.
Da saßen wir bereits im Wagen und fuhren am Ortsschild vorbei über die Landstraße. Ich hörte mein Herz, wie es dumpf über den Rücksitz pochte. Wir machten das regelmäßig, hier rausfahren und abheben, aber jedesmal war ich ein Nervenbündel, noch Stunden danach. Vielleicht redete ich deshalb so viel und bekam erst später mit, dass wir nach Neugarzweiler fuhren und nicht zurück nach Köln. Erst als wir an der Abzweigung Jackerath vorbeipreschten, dort wo der Aussichtspunkt liegt, und du das ganze Ausmaß der Baggerungen sehen kannst, fragte ich Malte: »Wohin bringst du uns?« Und begriff sofort, nachdem ich gefragt hatte, dass ich bereits vorher begriffen hatte, dass wir nicht nach Hause unterwegs waren. Habe ich schon öfter an mir beobachtet, dass ich Dinge weiß, von denen ich gar nicht weiß, dass ich sie weiß. Erst dann merke, klar doch, wenn ich danach gefragt habe. Also, so wie ein Gespräch mit mir selbst, aber ohne das Selbstgespräch weiß ich eben nichts. Also nicht nichts, aber …

»Jetzt komm mal runter, Stan«, wiederholte Malte, »wir fahren nach Neugarzweiler, ich will euch was zeigen.«
»Was gibt es denn da zu sehen?«, fragte Caro, band sich die beiden Ohrlappen ihrer Fliegermütze überm Kopf zusammen und drückte ihre Doc Martens gegen die Windschutzscheibe.
Malte antwortete nicht, konzentrierte sich aufs Autofahren, jedenfalls tat er so. Dabei ist er ein total sicherer Autofahrer. Ist aber auch schon dreißig. Da kann man bereits Auto fahren. Ich kann das auch, aber die Prüfer haben mich zweimal durchfallen lassen, und deshalb habe ich noch immer keinen Lappen, obwohl ich schon zwanzig bin. Caro ist genau in der Mitte, aber die fährt nie und redet nicht viel und wenn, wiederholt sie immer die gleichen Sachen, ein bisschen wie in diesem Film mit dem Murmeltier. Jedenfalls wollte ich wissen, wo die Reise hingeht und fragte: »He, Malte, wohin bringst du uns?« Und dachte, scheiße, das hast du doch gerade gefragt, und natürlich antwortete Malte nicht, gab Gas, obwohl das Schild 50 deutlich zu sehen gewesen war, aber der wollte halt schnell nach Neugarzweiler, das alte gab es schon zwanzig Jahre nicht mehr, aber ich bin noch nie im neuen Garzweiler gewesen, warum auch, war ja auch nie im alten, es sei denn, meine Eltern hätten mich da mal mitgenommen, als es das noch gab, aber auch das ist ja nicht möglich, weil …

»Stan, halt doch einfach mal die Klappe«, sagte Caro, ausgerechnet Caro, die nie was sagt, außer dass sie sich wiederholt, aber vielleicht sagte sie das ja öfter auf den Rückfahrten zu mir und ich vergaß es gleich wieder, jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, dass sie das mal zu mir gesagt hatte. Es hatte auch nicht genervt geklungen, wie sie es gesagt hatte, eher ruhig und war deshalb so bestimmend, als wenn meine Mutter … Aber ich dachte mir, was hat die dir zu sagen, also die Caro, was hat dir die zu sagen oder auch er? Die sprangen wie du von der Sophienhöhe und hofften nicht erwischt zu werden. Malte soll früher sogar über dem Tageabbau Garzweiler gesprungen sein, das erzählt er, Tandemsprung mit einem Kroaten, kann sein, dass das stimmt, aber da ist keine Höhe, nicht wirklich. Nichts, wo du abspringen kannst. Wir waren ja mal da, weil Malte es uns zeigen wollte, und ich hatte schon damals das Gefühl, da stecke mehr dahinter, aber er rückte nicht mit der Sprache heraus und so standen wir nur rum, sahen diesen überdimensionierten Bagger seine Zähne in die Erde rammen, dass man dachte, die Welt erzittert in ihrem tiefsten Punkt und bald schießt die Lava hier überall aus den Ritzen, aber da sagte Malte: »Du schaust dir zu viele Katastrophenfilme an, Stan.«

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