Foto: Manfred Wegener

Draußen vor der Tür

Die Überlebensstation Gulliver am Hauptbahnhof feiert

zehnjähriges Bestehen. Gebraucht wird sie mehr denn je.

»Wir sind die Antithese zu Hartz IV«, sagt Bernd Mombauer. Die Stigmatisierung von Erwerbslosen im Stile Wolfgang Clements oder Guido Westerwelles findet er unbegreiflich. Mombauer ist Geschäftsführer der »Überlebensstation Gulliver« für Obdachlose. Er habe vielmehr die Erfahrung gemacht, sagt er, dass Menschen selbst in schwierigen Lebenslagen einer sinnhaften Tätigkeit nachgehen möchten.

Vor zehn Jahren öffnete die Anlaufstelle für Obdachlose in einem Bahnbogen hinter dem Kölner Hauptbahnhof. Seitdem kommen täglich bis zu 200 Menschen, um die Angebote zu nutzen. Neben dem präventiv-medizinischen Bereich im Erdgeschoss mit Duschen, Toiletten, Waschmaschinen und Kleiderkammer gibt es einen geräumigen Gästebereich, dazu Gastronomie, Internetzugang und eine Handyladestation im Obergeschoss.

Keine Almosen

Die Idee zu diesem Projekt entstand 1999. Ziel war es, einen öffentlichen und sicheren Raum mit möglichst hohem Standard für wohnungslose Menschen zu schaffen. Allein bis zur Fertigstellung hat Gulliver 800.000 DM gekostet. »Ohne die Beteiligung von Firmen, die Materialien und Leistungen umsonst erbracht haben, und die immensen Spenden von Bürgern«, sagt Mombauer, »wäre Gulliver nie entstanden und auch niemals aufrecht zu erhalten.«

Es geht dem Geschäftsführer nicht darum, Almosen zu verteilen. Jede Leistung im Gulliver kostet einen kleinen Obolus. Die Einnahmen decken zwar nicht die Kosten, doch spiegeln sie ein Verständnis wieder, wonach die Menschen im Gulliver als Gäste behandelt werden, die Leistungen erwarten dürfen. Auf diese Weise will die Überlebensstation auch zeigen, dass Geld – und sei es ein Existenzminimum – Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist.

Neue Perspektiven

Doch Gulliver ist nicht bloß Dienstleister für Wohnungslose. Die Einrichtung ist zugleich Beschäftigungsprojekt, Integrationsstelle und soziales Experiment. Alle 14 Mitarbeiter, abgesehen von den beiden Sozialpädagogen, sind oder waren obdachlos. »Der Trick ist, dass Menschen, die Platte machen, hier als Gäste reinkommen, die Dienstleistungen nutzen und dann anfangen, bei uns mitzuarbeiten«, erklärt Mombauer. Entscheidend sei, dass viele so wieder Perspektiven für ihr Leben entwickelten.

Tom beispielsweise. Er ist Mitte dreißig und lebt seit mehr als zehn Jahren auf der Straße. Im September hat er tageweise im Gulliver angefangen. »Klar gibt es Leute, die sich nicht wieder eingliedern wollen, aber es gibt auch genug, die nicht freiwillig auf der Straße leben«, sagt er. Mittlerweile arbeitet Tom im Rahmen eines Integrationsjobs als stellvertretender Vorarbeiter in der Küche und versucht, den Schritt ins »normale Leben« zu schaffen.

Seine Chancen stehen gut: Fünf der letzten sechs Vorarbeiter haben es auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Mitarbeiter wie Tom motiviert die Aussicht auf Reintegration, die Gäste profitieren wiederum von deren Erfahrungen auf der Straße. Geht es im Winter beispielsweise um außerordentliche Nachtschichten, gebe es immer Freiwillige, sagt Tom. »Hier wissen schließlich alle, was es heißt, draußen schlafen zu müssen.«

Kaum Hilfe

Ein Anliegen der Überlebensstation ist es auch, Vorurteile abzubauen. Beate Janicki, Sozialpädagogin in der Einrichtung, musste erst lernen, dass es den typischen Obdachlosen nicht gibt. »Viele haben einen sehr strukturierten Tagesablauf, trinken keinen Alkohol und sind meist gar nicht als wohnungslos zu erkennen.« Seit der Hartz-IV-Gesetze kämen zunehmend Menschen mit guten Bildungsabschlüssen, Facharbeiter oder Akademiker.

»Wenn in Köln Tausende Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen fehlen, dann ist auch das eine Ursache für Obdachlosigkeit«, sagt Mombauer. Im Gulliver zeige sich, dass Obdachlosigkeit ein strukturelles, systembedingtes Phänomen sei und nicht bloß ein individuelles Problem.

Seit Hartz IV ist die Arbeit nicht leichter geworden. Betreut werden oder Leistungen erhalten darf nur noch, wer bei einem Jobcenter geführt wird. Damit sind Menschen, die vorher einbezogen werden konnten, ausgegrenzt. Gründe, sich nicht zu melden, gibt es genug. »Meist sind es Frauen, die aus Angst vor häuslicher Gewalt untergetaucht sind«, erklärt Mombauer.

Hilfe von der Politik gebe es wenig, findet Tom. Seit er fest im Gulliver arbeitet, lebt er in einer Pension. Sobald klar wird, dass jemand ALG II bezieht, hat er kaum noch eine Chance auf eine Wohnung, meist stehe das ganz offen in den Anzeigen. Nicht nur in dieser Hinsicht fühlt sich Tom hilflos: »Man kann sich hier drinnen den Arsch aufreißen, aber für die meisten ist spätestens draußen vor der Tür wieder Schluss.«

10 Jahre Kunst und Kultur im Gulliver. Jubiläumsausstellung Carlos Manrique – Bilder, Zeichnungen, Objekte. Bis zum
27. März, geöffnet Mo und Fr 6 bis13 Uhr, 15 bis 22 Uhr, sowie Sa und So 10 bis 18 Uhr
Lew Tolstoj - Sofja Tolstoja: Eine Ehe in Briefen. Lesung mit Bernt Hahn und Heidrun Grote. 25. März, 19 Uhr
(siehe Tagestipp)
Überlebensstation Gulliver, Trankgasse 20, Bahnbogen 1 (Hohenzollernbrücke).