Heldentum und Alltag

Er ist der einzige Superheld, der seinen Kampf gegen das Böse schon mal abbricht, um eine Klausur zu schreiben.

Sam Raimi überträgt mit »Spider-Man« den Comic-Klassiker kongenial auf die Leinwände des dritten Jahrtausends.

Das Tollste an den Spiderman-Comics ist, dass sie einem eine Menge Platz anbieten. So erschien es mir jedenfalls in der Mittelstufe, als ich meinen Heimweg regelmäßig am schmucklosen Bielefelder Hauptbahnhof mit dem Kauf der neuen Ausgabe von »Die Spinne« aufwertete. Dieser Held hatte mehr mit mir zu tun als die Herren Super- und Batman oder sonstige Vertreter der Gerechtigkeitsliga. Das lag nicht an irgendwelchen erträumten Ähnlichkeiten zwischen mir und ihm oder gar zwischen Bielefeld und New York; unser größtes Hochhaus was das Postgebäude am Kesselbrink. Der Raum für Persönliches, den mir »Die Spinne« bot, erwuchs vielmehr daraus, dass hier auch die Titelfigur selbst sehr viel Persönliches preisgab. »Die Spinne«, das war vor allem Peter Parker, ein Student, der nicht selten unter seinen nächtlichen Ausflügen als Superheld zu leiden hatte.

Kämpfe mit Monstern und Klausuren

Fast alle Superhelden haben eine zweite, bürgerliche Existenz. Das Besondere von Spiderman ist aber, wie dieses Alltagsdasein das Superheldenleben beeinflusst und umgekehrt. Er bricht einen Kampf gegen »das Böse« schon mal ab, weil es eine Klausur zu schreiben gilt. Eine Verabredung mit der geliebten Mary Jane verpennt er, weil des Nachts eine Schlacht gegen den mächtigen Kingpin, Dr. Octopus oder Craven, den Jäger, zu ausschweifend geraten war. Mit diesem Platz für (Superhelden-)Alltag hatte auch ich damals Platz in diesem Reich, und das steigerte gerade die Faszination für die Kampfsequenzen – sie wurden lebendiger und damit auch die Möglichkeit, Angst um einen Superhelden zu haben.
Die aktuelle Verfilmung von Sam Raimi (»The Gift«, »Tanz der Teufel«) weckt andere Befürchtungen: Wird das Wesen von Spiderman so geachtet werden wie sein Fledermauskollege in den Tim-Burton-Filmen »Batman« oder »Batman Returns«? Oder wird er lieb- und inspirationslos geschlachtet wie in den letzten Batman-Schinken von Joel Schumacher? Spidermans erste Herausforderung ist also nicht der Mörder seines Onkles Ben und nicht sein Erzfeind, der Grüne Kobold, sondern die Erwartungshaltung des Fans.

Coming-of-age-Geschichte

Derart vorbelastet überrascht Raimis »Spider-Man« positiv. Seine Werktreue besteht darin, sowohl die Bedeutung des Privaten und Persönlichen des Comics auf heutige Verhältnisse und seine Teenager-Zielgruppe zu übertragen, als auch etwas von der Stofflichkeit des Comics zu spiegeln. Doch noch ein Teenie-Film: Peter Parker wird von Tobey Maguire als bebrillter Hänfling gespielt, sodass seine Entwicklung zu Spiderman zur Coming-of-age-Geschichte wird. Hatte ihn im Comic dereinst eine radioaktiv verseuchte Spinne gebissen, ist es hier, passend zum Beginn des dritten Jahrtausends, ein genmanipuliertes Tier, das die enorme Kraft und alle Spinnenfähigkeiten überträgt. Am nächsten Morgen wird er im Kinderzimmerspiegel verwirrt seine neu gewachsenen Muskeln bestaunen. Pubertät extrem.
Die folgende rasante Geschichte seiner Selbstfindung, bis er sich als Spiderman durch New York schwingt, ist beides: das Leid des zu frühen Erwachsenwerdens (Tod) und der Rausch der neuen Möglichkeiten und Kräfte (Wiedergeburt). Zu Beidem gehört auch die Vertiefung der so lange unerfüllten Liebe zur Schulschönheit und Nachbarstochter Mary Jane (Kirsten Dunst). Genau diesen für Spiderman wesentlichen Spagat verkörpert Tobey Maguire so großartig, dass er einen Spiderman erschafft, der keine Kopie der Comicfigur ist, sondern ein glaubwürdiges Kinoäquivalent.
Direkte Reminiszensen an den Comic bietet Raimis »Spider-Man« dabei nicht nur durch aufwändige Nachinszenierungen zentraler Bilder und einen netten Cameo-Auftritt des Spiderman-Vaters Stan Lee, der auch als ausführender Produzent beteiligt war. Gerade die Actionszenen, das Herumschwingen zwischen den Hochhäusern und die Kämpfe gegen den Grünen Kobold (Willem Dafoe), wirken durch die digitale Bildbearbeitung zugleich beeindruckend und auf eine Art verfremdet, die an die Comics erinnert. Eine real-irreale Stimmung geht von diesen Sequenzen aus, die jenes so wichtige »Alles-ist-möglich«-Versprechen der Comic-Hefte erfüllt.

Vom Ende der Freiheit

Gleichzeitig aber – eine bemerkenswerte Zugabe in Sachen Alltagsintegration des Stoffs – zeigt »Spider-Man« wo diese Freiheit endet: beim Thema Arbeit. Die Superhelden-Action, die Coming-of-age- und auch die Liebesgeschichte sind verbunden durch die Suche nach Arbeitsplätzen oder deren Verlust. So mutiert der Erfinder Norman Osborne nur deshalb zum mörderischen Grünen Kobold, weil er Subventionen der Armee mitsamt eines Forschungsauftrags schwinden sieht und am Ende gar aus seiner Firma entlassen wird. Dass diese Gewichtung kein Zufall ist, erklärt Peter Parkers weiser Onkel Ben (Cliff Robertson), der auch das zentrale Motto der Spiderman-Karriere, »with great power comes great responsibility«, formuliert. Einer seiner ersten Sätze im Film ist eine einfache Systemanalyse: »Downsizing the people, upsizing the profits.«

Spider-Man (dto) USA 02, R: Sam Raimi, D: Tobey Maguire, Kirsten Dunst, Willem Dafoe, 121 Min. Start: 6.6.