In der Hillbilly-Hölle: Jennifer Lawrence

Crack, K.o.’s und Crystal Meth

Keine Angst vor Klischees: Winter’s Bone und The Fighter zeigen ­Armut in Amerika

Den Protagonisten von »Win­ter’s Bone« und »The Fighter« bleibt keine Wahl. In »Winter’s Bone« muss die 17-jährige Ree unbedingt den Verbleib ihres Vaters klären, obwohl ihre kriminelle Verwandtschaft nachdrücklich mit Konsequenzen droht. Bevor er verschwand, hat er nämlich die Besitzurkunde für sein winziges, schäbiges Haus als Sicherheit für eine Kaution hinterlegt. Wenn er zu seinem bevorstehenden Prozess wegen Meth­amphetamin-Handels nicht erscheint – oder bis dahin nicht sein Tod bewiesen ist –, wird nicht nur Ree auf der Straße landen, sondern auch ihre beiden kleinen Geschwister und die psychisch kranke, apathische Mutter.

 

In ähnlicher Weise sieht sich der Boxer Micky Ward in »The Fighter« in der Pflicht: Seine dominante Mutter Alice, die auch seine Managerin ist, sein cracksüchtiger Bruder Dickie, der ihn nominell trainiert, sowie sieben (nichtsnutzige) Schwestern rechnen mit einem Anteil an der Kampfbörse, wenn Micky als semi-professioneller Boxer in den Ring steigt. Weil er es mangels besseren Managements mitunter mit Gegnern zu tun bekommt, die eigentlich zwei Gewichtsklassen über ihm rangieren, setzt Micky dabei ebenso sein Leben aufs Spiel wie Ree bei ihrer Konfrontation mit der Hinterwäldler-Drogenmafia.

 

Abgesehen von engen familiä­ren Loyalitäten sind die Entscheidungen beider Figuren allerdings auch von der Perspektivlosigkeit im sozialen Kontext bestimmt. Beide Filme zeichnen Milieus, die im US-Kino unterrepräsentiert sind, aber sogleich stereotype Assoziationen wecken. Wenn ein Film wie »The Fighter« in der Arbeiterklasse von Lowell spielt, der ehemals größten Industriestadt der USA, der die Jobs schon vor fast hundert Jahren abhanden kamen, dann steht unweigerlich das Sterotyp vom »White Trash«-Subproletariat im Raum. Mit den Ozark-Bergen, in denen »Winter’s Bone« angesiedelt ist, assoziiert man vor allem alte Countrymusik, die einst bezeichnenderweise »hillbilly music« hieß. Nicht zufällig galt die traditionell arme Gegend in der TV-Serie »The Beverly Hillbillies« als Herkunftsort der verspot­teten hinterwäldlerischen Titel­figuren.

 

Diesem Dilemma haben sich die Regisseure der herausragenden Filme gestellt, indem sie zum einen den Klischees nicht verschämt ausweichen. Debra Granik lässt Ree Eichhörnchen jagen und mobilisiert damit eines der ältesten Ressentiments gegen Rednecks, die angeblich unappetitliches Getier fressen. David O. Russell (»Three Kings«) lässt seine Darstellerinnen so ausgiebig Make-up, Haarspray und Bleichmittel auftragen, dass einem fast die Luft wegbleibt. Beide Filme betonen zum anderen aber Realitätsnähe: Sie wurden vor Ort gedreht und sind in Nebenrollen mit örtlichen Schauspiellaien besetzt. Granik nimmt sich viel Zeit für Alltagsbeobachtungen, wohingegen Russell ein eher flottes Tempo anschlagen muss, um seinen weitläufigen Plot zu erzählen – aber beide teilen ungeachtet der stilistischen Unterschiede eine Ästhetik, die auf einer agilen Handkamera basiert. In Interviews haben beide Filmemacher nicht nur wortreich Respekt für die örtliche Bevölkerung bekundet, sondern auch die regionale Affinität ihrer Hauptdarsteller zum Handlungsort betont.

 

Vergleichbare Mittel dienen hier aber durchaus gegensätzlichen Zwecken. Russell betont, dass die Vorbilder seiner Figuren wirklich so seien, wie von ihm dargestellt. Granik würde solch eine vorbehaltlose Realismusbehauptung niemals aufstellen, nicht zuletzt weil ihr Film einem anderen Genre angehört.

 

»The Fighter« ist ein Biopic, das sich offenbar recht genau an die Fakten hält, aber trotzdem den typisch erbaulichen Handlungsbogen eines Boxerfilms span­nen kann – auch wenn der Subplot um das gescheiterte Box­talent Dickie dem über weite Stre­cken widerspricht.

 

Die Romanverfilmung »Win­ter’s Bone« hat dagegen einen starken noir-Einschlag, wobei die Erzählstruktur die eines Märchens oder eines Mythos’ ist, gipfelnd in einer Szene von archaischer Drastik. Dabei vertraut die Filmemacherin darauf, dass gerade die mythischen Elemente ihr Publikum von vulgärsoziologischen Kurzschlüssen abhalten. Und sie verzichtet darauf, ihre in Interviews stets eingeräumte Außensicht auf eine fremde Welt auch filmisch zu reflektieren.

 

Russell tut das hingegen sehr wirkungsvoll, indem er mehrfach ein Filmteam auftreten lässt, das an einem Dokumentarfilm über den cracksüchtigen Dickie arbeitet. Als dieser Film – »High on Crack Street« (gratis im Internet zu finden) – im Fernsehen ausgestrahlt wird, führen uns die erschütterten Reaktionen von Bruder Micky und Mutter Alice vor Augen, wie problematisch selbst eine gut gemeinte mediale Außendarstellung speziell für jene Menschen ist, die ihr Gegenstand sind.

 

Russell kehrt den Spieß in einer ironischen Nebenepisode jedoch auch einmal um und hält dem Publikum in der Rahmenhandlung einen Spiegel vor: Als Micky seine Freundin Charlene erstmals ins Kino ausführt, landen sie in einem europäischen Arthouse-Film und stoßen prompt auf einen typischen Liebhaber dieser Art von Kino: einen Schnösel, so stereotyp, wie man ihn sich nur vorstellen kann.

 

The Fighter (dto) USA 2010, R: David O. Russell, D: Mark Wahlberg, Christian Bale, Amy Adams, 115 Min. Start 7.4.
Winter’s Bone (dto) USA 2010,
R: Debra Granik, D: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Kevin Breznahan,
100 Min. Start 31.3.