Fotografie aus »Eis«, 1972, courtesy: Galerie Robert Drees, Hannover

Produktive Unruhe

Gerhard Richters Künstlerbuch »EIS« inszeniert Fotos einer Grönlandreise

»Grönland wird begrenzt von der Baffinsbay, der Davisstraße, dem nordatlantischen Ozean, dem Nordpolarmeer, dem Smithssund und dem Kennedykanal …«. So beginnt Gerhard Richters jüngstes Künstlerbuch »EIS«. Auf der linken Seite neben dem Text blickt man auf zwei Fotos, und spätestens dann fällt auf, dass »EIS« nicht einfach ein Buch mit Landschaftsfotos ist, die Richter 1972 während einer Grönlandreise gemacht hat. Die untere Aufnahme – im Vordergrund graues Geröll, im Hintergrund das bläulich verschwommene Eismeer – steht auf dem Kopf.

 

Auch alle folgenden Seiten gliedern sich in gleich große Felder für Bild, Text oder Leerfläche, in der Mitte wie von einer horizontalen Spiegelachse geteilt. Ein nahe liegender Kunstgriff angesichts der oft spiegelglatten Wasseroberflächen, aus denen sich rorschachähnliche, halbabstrakte Kompositionen ergeben. »EIS« ist ein Buch mit zwei Anfängen und ohne Ende, und die wechselnden Orientierungen von Bild und Text folgen keinem erkennbaren Prinzip, was bei der Beschäf­tigung mit diesem Objekt eine produktive Unruhe auslöst. Einfach unmöglich, sich in die kühlen Bildwelten der Antarktis zu versenken, wenn das visuelle Umfeld immer wieder buchstäblich kopfsteht.

 

Um sich dem Buch auf einem Umweg zu nähern, lohnt es, an die Entstehungszeit der Grönland-Fotos zu erinnern. 1972 hatte Gerhard Richter auf der Biennale von Venedig seine »48 Portraits« ausgestellt, die heute dem Museum Ludwig gehören: nach Lexikonfotos gemalte schwarzweiße Bildnisse von Schriftstellern, Kom­ponisten, Philosophen und Wissenschaftlern, ein exklusiv männ­liches Pantheon der Moderne. 1964/65 notierte er: »Ich mag alles, was keinen Stil hat: Wörterbücher, Fotos, die Natur, mich und meine Bilder. (Denn Stil ist Gewalttat, und ich bin nicht gewalttätig.)« Dass Richter damals – nach 13 Jahren NS-Zeit und 16 Jahren DDR seit 1961 in Düsseldorf lebend – dem »Stil« skeptisch gegenüberstand und ästhetisch-ideologischen Zwangsjacken entfliehen wollte, leuchtete ebenso aus künstlerischen wie aus politi­schen Gründen ein.

 

Dass fünfzig Jahre später der Text in »EIS« der Brockhaus-Enzyklopädie von 1871 entnommen wurde, erscheint allerdings eher als verschenkte Chance. Hatte doch erst kürzlich Richters kongeniale Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge in dem Band »Dezember« (2010) gezeigt, wieviel Spannung zwischen Bildern und Texten entstehen kann.



Gerhard Richter, EIS. Verlag der ­Buch­handlung Walther König, Köln 2011,
142 S. mit 172 farb. Abb., 38?€.