Foto: complize-photocase.com

Unsere Daten sind gezählt

Derzeit läuft der Zensus 2011, Stichtag der Volks­zählung ist der 9. Mai. Die Daten bestehender Melde­register werden zusammengeführt und stichproben­artig rund acht Millionen Bundesbürger befragt: was sie arbeiten, wie alt sie sind, wo sie wohnen. Zwei Meinungen dazu aus der StadtRevue-Redaktion

 

CONTRA: Der Staat, die Megamaschine


Die Aufhebung von Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung gilt vielen als Voraussetzung unbeschwerter, universeller Kommunikation, Facebook-Guru Marc Zuckerberg hat dies schließlich höchstselbst dekretiert. Aber abgesehen davon, dass unbeschwerte Kommunikation vor dem Hintergrund von Privateigentum und Konkurrenzwirtschaft ohnehin eine Fiktion ist – wenn der Staat nach unseren Daten fragt, ist das per se keine harmlose Sache.


Zwar preist der Staat die Volkszählung in einer Sprache an, die uns aus dem Alltagsleben vertraut ist: Eine Volkszählung sei doch wie eine Inventur, jedes Unternehmen mache sie. Ein Staat müsse doch die Politik auf eine empirisch sichere Grundlage stellen, Planung setze »belastbare« Daten voraus. Aber welche Planung eigentlich? Welche Politik? In der Ankündigung der Volkszählung geht es explizit nicht um Inhalte. Klar, es soll auch der Wohnungsstand erhoben werden, aber nie und nimmer wird daraus folgen, dass mehr Sozialwohnungen gebaut werden und die Mieten gedeckelt werden müssen. Und dass es an bezahlbarem Wohnraum mangelt und die Innenstädte schon für Normalverdiener unerschwinglich werden, das wissen wir Betroffene schon selbst.


Es geht natürlich um Kontrolle, es geht darum, präzise Profile der Bevölkerungsschichten zu erstellen, »gefährliche Klassen« zu bestimmen, vermeintliche Brennpunkte zu identifizieren oder, ganz simpel, die Politik der letzten Jahre zu legitimieren. Wird die Volkszählung das völlig überraschende Ergebnis eines demografischen Wandels diagnostizieren, wird die völlig überraschende Schlussfolgerung der Politik – die von allen großen Parteien getragen werden wird – lauten: Dann muss halt das Renteneinstiegsalter angepasst, vulgo: heraufgesetzt werden.

 

Die Daten-Freizügigkeit der Facebook- und Google-Ära korrespondiert mit einer gewissen Staatsvergessenheit: Für die meisten tritt der Staat aktiv bloß noch in Form von Polizisten auf, die Bahnhöfe, Flughäfen, Fußballstadien und Einkaufsmeilen vor Terroranschlägen und Vandalismus schützen. Der Staat ist aber auch die Megamaschine, die schon mit vergleichsweise kleinen Maßnahmen wie der »Anpassung« des Rentenalters vielen Leuten das Leben zur Hölle macht. Dass der Staat das machen kann, dazu dient auch eine Volkszählung.

 

PRO: Fakten statt Vermutungen

 

Früher wurde in linken Kreisen dazu aufgerufen, E-Mails zu verschlüsseln. Heute tun das nur noch Paranoiker, alle anderen sind zu bequem oder zu unbedarft. Die wenigsten interessiert überhaupt, welche persönlichen Daten sie mit doc-Dateien, der Kreditkarte und ihrem Smartphone verbreiten. Google Streetview zeigt mir, wie die anderen leben, in sozialen Netzwerken erfahre ich alles über ihre Neigungen und Interessen. Fast allen, und es werden immer mehr, ist das egal.

 

Das Recht auf »informationelle Selbstbestimmung«, mit dem das Bundesverfassungsgericht 1983 die geplante Volkszählung stoppte, so dass sie erst 1987 in korrigierter Form durchgeführt werden konnte, werfen wir tagtäglich über Bord: mit Paybackkarte, Facebook-Account oder einem Besuch im AppStore. Es muss sogar bezweifelt werden, ob der Datenschutz überhaupt auf der Höhe der Zeit diskutiert wird. Wir stecken in einem Dilemma: Gesellschaftliche Teilhabe gibt es heute nur durch den bewussten oder hingenommenen Verzicht auf die Kontrolle persönlicher Daten. Der kritische Furor der 80er Jahre (»Der gläserne Mensch«) wirkt seltsam nostalgisch.

 

Seit 1987 hat es keinen Zensus mehr gegeben. Das Datenmaterial ist veraltet oder verstreut. Nun wird es teils neu erhoben, teils zusammengeführt. Das ist dringend nötig, denn aus falschen Fakten werden falsche Schlüsse gezogen. Man sollte sich vor Augen halten, was in den letzten 24 Jahren geschehen ist: die Wiedervereinigung, die Digitalisierung der Haushalte und der Arbeitswelt, die flächendeckende Etablierung neuer Lebens- und Berufsformen. Herausforderungen wie demografischer Wandel, Energiewende oder eine sinnvolle Verkehrspolitik können ohne gesichertes Daten­material nicht bewältigt werden.

 

Es ist ein Übel, wenn in gesellschaftlichen Debatten eine Datenlage unterstellt, aber nicht belegt wird. So gedeiht ein Populismus, der selektive Wahrnehmung zu Trends umdeutet. Hier droht Gefahr, nicht beim Zensus.

 

Mir soll es recht sein, wenn relevante Daten nachvollziehbar, transparent und auf gesetzlicher Grundlage erhoben werden. Dass wir Daten bereitwillig an Facebook oder Google abtreten und solche multinationalen Konzerne diese für ihre Interessen nutzen oder damit handeln, mag gefährlich sein. Der Zensus ist es nicht.