Pierre Boulez, Foto: Jörn Neumann

»Ich muss erst das Problem lösen«

Dieses Jahr wollte er bloß noch komponieren. Aber weil die Kölner MusikTriennale ihm zu Ehren ein Festival ausrichtet, kommt Pierre Boulez am 8. Mai nach Köln, um Ravel, Strawinsky und Schönberg zu dirigieren. Vorher traf er in Paris Felix Klopotek (Text) und Jörn Neumann (Fotos) zu einem Interview. Zeit hatte er eigentlich keine, aber es wurde doch eine inspirierte Stunde.

Anfang Februar. Mit dem Thalys fuhren wir raus aus dem nasskalten Köln in ein fast schon frühlingshaftes Paris. Wir hatten extra einen frühen Zug gebucht, um die Zeit zu haben, durch Paris zu laufen. Vom Gare du Nord ging es immer geradeaus, Boulevard de Strasbourg, Boulevard de Sébastopol, kurz vor der Seine links rein zum Centre Pompidou. Direkt neben diesem gigantischen, retrofuturis­ti­schen Gerippe liegt das Institute de Recherche et de ­Coordination Acoustique-Musique, kurz: IRCAM, ein Tempel der Neuen Musik und der Avantgarde, eigens für Pierre Boulez 1976 eingerichtet.

 

Denn der mittlerweile 86-jährige Boulez hat seine kompositorische Tätigkeit stets erweitert: Er versteht sich als gesellschaftlicher Klangforscher, ebenso sehr als Physiker wie als Soziologe der Avantgarde, jemand, der die Neue Musik immer auch im Kontext päda­gogischer Forderungen ansiedelt. Das For­schungs­institut – das ursprünglich komplett unterirdisch untergebracht war und vier Stockwerke tief geht, mit Aufführungssälen, einem schalltoten Raum, Aufnahmestudios und Büros und Arbeitszimmern, ist eine frühe Vollendung seines Werks. Bis 1992 war Boulez Direktor des IRCAM, liegt sein Büro etwas abseits vom Trubel. Ihn zu treffen, soll immer noch etwas besonderes sein. Der Raum selbst ist schlicht und funktional eingerichtet. Kann es wirklich sein, dass jemand seine Grammys schlichtweg als Regalstützen verwendet?

 

Weltkarriere hat Boulez als Dirigent gemacht: Er leitete nacheinander das BBC Symphony Orchestra und das New York Philharmonic Orchestra, von 1976 bis 1980 dirigierte er bei den Bayreuther Festspielen Wagners Ring. Als Dirigent widmet er sich zum einen Kompositionen von Kollegen, um diese zu etablieren, zum anderen untersucht er ak­ribisch die Musik, die seiner eigenen vor­her­gegangen ist: Seine Einspielungen von Webern (das Gesamtwerk), Schönberg oder Strawinsky sind legendär.

 

Bei aller Aktivität – auch mit 86 Jahren strahlt Boulez kaum Ruhe und Selbstzufrieden­heit aus, sondern wirkt umtriebig und immer auf dem Sprung – ist das Komponieren nach wie vor das Zentrum seines Schaffens. Boulez war gerade mal zwanzig, als er mit kühnen Zwölfton-Musiken in der Nachfolge Arnold Schönbergs auf sich aufmerksam machte. Zusammen mit Karlheinz Stock­hau­sen und Luigi Nono bildete er das Triumvirat des Serialismus, einer vollkommen durch­gestalteten, hyperrationalistischen Musik. Alle drei brachen im Laufe der 50er Jahre mit dem Serialismus, Boulez tat dies mit Werken wie »Le marteau sans maître« und »Pli selon pli. Portrait de Mallarmé« vielleicht am spielerischsten.

 

Das Festival »8 Brücken. Musik für Köln« (8.-15. Mai) wird den ganzen Boulez präsentieren: Er wird dirigieren, seine wichtigsten Kompositionen werden zur Aufführung gebracht und ein umfangreiches, didaktisch ausgerichtetes Rahmenprogramm seinem pädagogischen Ethos entsprechen.

 

Pierre Boulez, der seit über fünfzig Jahren abwechselnd in Paris und Baden-­Baden lebt, spricht perfekt Deutsch. Er ist kleiner als man ihn von vielen Fotos kennt. Das liegt daran, dass Dirigenten gerne von unten foto­grafiert werden, damit das Würdevolle und Herrschaftliche ihrer Gesten besser zur Geltung kommt. Boulez selbst hat an diesen Gesten kein Interesse.

 

StadtRevue: Herr Boulez, Sie sind bekannt als Komponist und Dirigent. Wir würden Sie das Verhältnis zwischen Komponieren und Dirigieren beschreiben?

 

Pierre Boulez: Als zwei Facetten derselben Persönlichkeit. Als Komponist habe ich den Vorteil, Partituren gewissermaßen von innen zu kennen: Sie erschließen sich mir strukturell und emotional besser. Beide Herangehensweisen sind gleich wichtig, wer eine Komposition nur strukturell interpretiert, erstarrt schnell im Formalistischen, es fehlt das Gefühl. Wer nur von seinem Herzen aus interpretiert, verliert die Übersicht.

 

Es gibt Komponisten, die haben lange Stücke geschrieben, denken Sie an einen Satz aus einer Symphonie Mahlers. Den kann man als Dirigent nicht bloß gefühlsmäßig erfassen, den muss man auch mit kühlem Verstand organisieren. Je besser ich eine Partitur kenne, desto freier kann ich mich in ihr bewegen. Es gibt da also eine Verbindung zwischen Planung und Spontaneität, die für mich als Komponist selbst sehr wichtig ist.

 

Als Komponist wiederum profitiere ich von meiner Arbeit als Dirigent. Bei Proben und in Zusammenarbeit mit Orchestern lernt man sehr viel über das Stück, über Musik schlechthin. Man kann sich ganz in die Praxis versenken und zum Beispiel nur einzelne Klänge proben. Für diese Erfahrungen nehme ich in Kauf, dass das Dirigieren mir Zeit fürs Komponieren wegnimmt. Auch wenn es schwer fällt.

 

StadtRevue: Als Dirigent arbeitet man an einem Kanon: ­Man hat die Möglichkeit, historische Grund­lagen zu bestimmen, musikalische Traditionslinien ­freizulegen.

 

Pierre Boulez: Wenn ich Konzerte gebe und Stücke dirigiere, steht eigentlich immer die Musik des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass diese Musik vernachlässigt wird, man spielt ab und an Stücke, vereinzelt, ohne Hingabe, ohne Leidenschaft. Und diese Leidenschaft wollte und will ich immer noch vermitteln. Ich will auch das Wissen darüber, was in den letzten hundert Jahren musikalisch passiert ist, vergrößern.

 

Man darf auch eines nicht vergessen: Die ersten Interpreten unserer Musik, waren nicht besonders begabt. Das waren die ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, da dachte sowieso kaum einer daran, sich ausgerechnet um Neue Musik intensiver zu kümmern. Dementsprechend dilettantisch waren die ersten Aufführungen. Schönberg hat einmal gesagt: Meine Musik ist nicht modern, meine Musik ist schlecht gespielt. Da hatte er Recht.

 

StadtRevue: Als Komponist revidieren Sie häufig Ihre eigenen Stücke, überarbeiten sie immer wieder. Warum sagen Sie nicht: Hier mache ich einen Schnitt und gehe zu etwas anderem?

 

Pierre Boulez: Weil ich mit einigem Abstand höre, was ich damals nicht präzise genug formuliert habe. Das brennt sich mir ein – ich bekomme regelrecht ein schlechtes Gewissen. Ich muss sie kor­rigieren, reduzieren, weiterentwickeln. Man muss die Konsequenzen aus den eigenen Stücken ziehen. Das ist es, was ich Werktreue nenne. Ich weiß, dass viele Kollegen das anders sehen, Stockhausen war da besonders radikal. Natürlich wusste er um das Unge­nügende in früheren Stücken – aber diese waren für ihn Geschichte, dahin wollte er nicht wieder zurück. Ich kann das nicht. Ich muss erst das Problem lösen. Manchmal brauche ich dafür fünfzig Jahre.

 

StadtRevue: Gibt es für Sie eine generelle Methode, die ihre Stücke durchdringt?

 

Pierre Boulez: Nein, das hängt von jedem Stück selbst ab. »Eclat?/?Multiples« geht vom einzelnen Klang aus, den klanglichen Besonderheiten, die sich ergeben, wenn man bestimmte Resonanzins­tru­mente – also ein Klavier oder ein Glockenspiel – anschlägt. Mich interessiert an diesem Stück, was die Zeit mit Klängen macht, wie sie nach einer gewissen Dauer sterben. Diese Klangentwicklung wollte und konnte ich auch nicht in einem Taktschema fixieren. Die Ansage für den Dirigenten ist: Warten Sie, bis ein Klang gestorben ist. Aber die Klänge sterben jedes Mal anders, das hängt vom Raum ab, vom Anschlag. Man muss das Stück sehr frei interpretieren und sich vom Metrum emanzipieren. Das alles rührt aus der ursprünglichen Idee her, einzelne Klänge in ihrer zeitlichen Entwicklung zu verfolgen. Die erste Frage, die erste Idee ist meistens sehr einfach, sehr roh, aber aus dieser Einfachheit lässt sich viel herausholen.

 

StadtRevue: Man zählt Sie zur Generation der Serialisten, zu jenen Komponisten, die nach einer sehr strengen Methode arbeiteten, die alle Parameter einer Komposition vorab determinierte. Gleichzeitig ge­hören Sie Anfang der 50er Jahre zu den ersten, die den Serialismus überwunden haben. Ist das ­die Kon­sequenz daraus, dass Sie sich so stark auf ­einzelne Ideen, poetische Inspirationen eingelassen haben?

 

Pierre Boulez: Was hat mich an der Zwölfton-Kompositions­weise gestört? Sie neigt dazu, die Stücke auf einzelne Punkte, meinetwegen auch: unendlich viele Punkt zu reduzieren. Ich hatte herausgefunden, dass man einen Akkord wie ein Bild beschreiben kann, dass man ihn als Klangplastik wahrnehmen kann und dass man, um etwas Neues zu schaffen, ihn nicht in seine Einzelbestandteile – eben in einzelne Klangpunkte, wie das im strengen Serialismus der Fall war – auflösen muss. In »Structures I« von 1952 habe ich den Serialismus so konsequent verwirklicht, dass das Ergebnis absurd ist. Und schon ein Jahr später habe ich frei komponiert und mich bewusst ganz von jedem Methodenfetischismus gelöst.

 

Diese Spannung zwischen strengen Regeln und freier Gestaltung habe ich auch in früheren Epochen entdeckt. Denken Sie an die Barock-Musik, in der das freie Präludium der doch häufig recht steifen Fuge gegenüber steht. Die­se Spannung war schon damals sehr produktiv. In gewisser Hinsicht denke und komponiere ich ohne Stil – ich habe keinen, ich gehe von keinem Stil aus. Bei mir steht die Frage nach dem Warum im Vordergrund: Warum haben Komponisten in anderen Epochen so und nicht anders geschrieben, warum wählen sie diese Kontraste? Die Frage nach C-Dur oder fis-Moll ist doch völlig uninteressant, interessant ist, was sich aus einer Idee oder einer Spannung entwickelt.

 

StadtRevue: Das kann man als dialektischen Prozess beschreiben: Sie arbeiten nach strikten Vorgaben, halten sich sklavisch daran, bis sich die Regeln als absurd erweisen. Darüber  gelangen Sie ins Freie, Offene, das sich aber nicht verliert, sondern auf den schon erarbeiteten Resultaten basiert. Sie loten die Extreme aus.

 

Pierre Boulez: Man muss sich von bestimmten Sachen abstoßen, um ihren Wert zu erkennen. Für das vorletzte Stück, das ich geschrieben habe, »Sur Incises« (1996/98), hatte ich die Idee, ein Klavierkonzert zu schreiben. Woran denkt man da? Ans 19. Jahrhundert, an Brahms, es ist zum Vergessen! Aber ich wusste natürlich, dass Strawinsky oder Bartok das Klavierkonzert für das 20. Jahrhundert bewahrt haben, an sie wollte ich anknüpfen – ohne aber in irgendeiner Weise ihren Klang aufzugreifen. Also habe ich Stimmen für Vibrafon und Marimba und für drei Harfen komponiert. Statt bloß einem Klavier, setzte ich drei ein. Dadurch entsteht eine Symmetrie – drei Klaviere, drei Harfen, drei Schlaginstrumente, eine Ordnung, innerhalb derer ich die Harfen noch einmal isoliere. Beim Komponieren habe ich also ganz klare physisch-räumliche Vorstellungen, wie sich der Klang entwickeln soll. Aus der ersten Idee, ein Klavierkonzert zu schreiben, ist also etwas anderes geworden.

 

StadtRevue: Wir sitzen hier quasi unter dem Centre Pompidou, vor dem sich täglich Menschenschlangen bilden, um sich moderne, gegenwärtige Kunst anzuschauen. Es gibt Hollywood-Regisseure, die wie selbstverständlich Methoden von Avantgardisten wie Jean-Luc Godard adaptieren und kommerziell erfolgreiche Filme drehen. Fast könnte man sagen, die Avantgarde habe gesiegt. Für die Musik gilt das offenbar nicht.

 

Pierre Boulez: Das ist ein Problem unserer Erziehung. Das muss man ganz klar festhalten. Es hat aber auch etwas mit der Musik selbst zu tun, sie ist vielleicht fordernder, anspruchsvoller als andere Künste. Sie findet in der Zeit statt, damit haben viele Leute ein Problem. Gehen Sie ins Centre Pompidou und schauen sich eine Ausstellung an. Gefällt Ihnen ein Bild oder eine Installation nicht, ist es für Sie überhaupt kein Problem, zum nächsten zu wechseln. Sie gehen durch die Ausstellung nach Ihrem eigenen Rhythmus, Sie erleben die Bilder und Objekte in Ihrer Zeit. Das ist völlig zwanglos – Sie sind frei.

 

Und bei der Musik? Da müssen Sie sich zuerst hinsetzen. Sie müssen bis zum Ende zuhören – und haben dann vielleicht immer noch nicht verstanden, um was es ging! Denn: Sie können nicht zurück. Man verliert sich schnell in Musik, man kann sich schlechter orientieren. Viele reagieren darauf mit Langweile, dann mit Zorn und am Ende werden Dirigent und Komponist ausgebuht. Es ist schier unglaublich, aber nach über sechzig Jahren erlebe ich das immer noch. Und dann müssen Sie noch zwei Sachen bedenken: Zum einen ist ein Konzert immer ein einmaliges, nicht wiederholbares Erlebnis. Zum anderen sind viele Konzert-Programme so konservativ, starr und auch langwierig, dass Sie kaum die Chance haben, mit einem von Ihnen als kontrovers erlebten Stück noch einmal in Berührung zu kommen.

 

StadtRevue: Hören Sie zu Hause Musik?

 

Pierre Boulez: Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe. Darum geht es mir. Ich weiß, man kann ganze Wochen nur mit CDs und DVDs verbringen, aber dazu ist mir meine Zeit zu wertvoll. Auch die eigenen Einspielungen höre ich maximal einmal. Ich bin kein Bibliotheksmensch, unser Jahrhundert erinnert mich an eine Bib­liothek, und das stört mich. Wir sind begraben unter Tonnen von Büchern und Tondokumenten. Das ist grausam. Irgendjemand findet in einem Archiv noch das Fragment einer Barock­komposition, und es wird ein Riesenaufwand darum gemacht. Alles muss archiviert und ­dokumentiert werden. Nein, ich finde, man muss die Kraft aufbringen, sich am Ausdruck der Gegenwart zu orientieren, sich mit dem Heute auseinanderzusetzen und nicht ­irgendwelche Meisterwerke zu entdecken, die gar keine sind. Die Meisterwerke sind alle schon bekannt.

 

Ich will nicht gegen einzelne Epochen, etwa gegen den Barock, sprechen. Nur – wenn man sich in der Musik spezia­lisiert, dann birgt das auch eine Gefahr. Ich habe ­einmal gesagt, und ich wiederhole mich gern, Spezialisten etwa in der Medizin sind mir lieb. Es muss Ärzte geben, die sich nur mit der ­Leber und solche, die sich nur mit den Knochen auskennen. Aber in der Musik wäre das eine schreckliche Beschränkung: ­Jemand, der sich nur im 19., aber nicht um 18. oder 20. Jahrhundert auskennt – wie kann man da ­zu einem angemessenen Musikverständnis kommen?