Schwimmen für die Bildung: Zehn Euro gibt´s im Monat für den Sportverein, Foto: Dirk Kruell

Arme gesucht

Das Bildungspaket für Kinder aus Hartz-IV-Familien wird kaum nachgefragt. Anja Albert hat nach den Gründen gesucht

Fünf Minuten nachdem die Schulglocke der Heinrich-Böll-Gesamtschule in Chorweiler geläutet hat, stürmt Juri schon in die Kinder- und Jugendeinrichtung Seeberger Treff. Seinen Schulranzen feuert er in die Ecke und schnappt sich einen Billard-Queue. Hinter der kleinen Theke klappert Geschirr. »Mhm, Spaghetti Carbonara«, sagt der Elfjährige und rollt dabei das R. Kurze Zeit später betritt Selma den Raum und fragt: »Kann ich gleich Hausaufgaben machen?« Hüseyin Cansay, Leiter der Einrichtung, schüttelt den Kopf: Erst wird gemeinsam gegessen.

Jeden Tag kommen insgesamt vierzig Kinder und Jugendliche direkt nach der Schule in den Seeberger Treff, viele bleiben bis zum Abend. Von außen sieht die Kinder- und Jugendeinrichtung aus wie die übrigen Bauten im äußersten Kölner Norden: ein Betongebirge aus Braun, Schwarz und dreckigem Gelb. Innen eröffnet sich jedoch eine andere Welt. Hell gestrichene Wände, bunte Tische, frisch zubereitetes Mittagessen, Pädagogen, die mit ihren »Kids« eine Runde Billard zocken. Hier scheinen die Probleme der Trabantenstadt – Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte Aussichten – zumindest ein klein bisschen ferner.

Warmes Mittagessen für 50 Cent

»Ich habe das warme Mittagessen vor 18 Jahren eingeführt, die Hausaufgabenbetreuung existiert noch länger«, sagt Cansay, der seine grauen Haare zum Zopf gebunden hat. Fünfzig Cent zahlen die Kinder und Jugendlichen für das Essen. »Und es gibt genug, die wir so durchschleusen«, sagt der Sozialarbeiter. Als der 51-Jährige das erste Mal vom Bildungs- und Teilhabepaket, dem »Prestigeprojekt« von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), gehört hat, musste er lächeln: »Das mag vieles sein. Aber neu oder gar innovativ, wie es die Bundesregierung gerne darstellt, ist es sicherlich nicht.«

Seit Anfang April ist das Gesetz in Kraft und sieht Hilfen für bundesweit rund 2,5 Millionen bedürftige Kinder vor. Dabei geht es um Zuschüsse für ein warmes Mittagessen in Schule und Kita, Nachhilfe oder eintägige Ausflüge. Zudem gibt es monatlich zehn Euro für Sport- und Musikvereine. Verabschiedet wurde das Paket Ende Februar im Rahmen der zähen Hartz-IV-Verhandlungen, nachdem das Bundesverfassungsgericht transparentere Berechnungen der Hilfen für Kinder verlangt hatte. Für Kinder aus bedürftigen Familien, so die Idee der Arbeitsministerin, sollte es nicht mehr Geld, sondern bessere Bildungsangebote geben – nach dem Prinzip »Fördern und Fordern«: Wer partizipieren möchte, muss Anträge stellen.

In Köln haben nur 14 Prozent einen Antrag gestellt


Schon damals wurde die Idee von Opposition und Wohlfahrtsverbänden, die neben der kulturellen Teilhabe auch höhere Hartz-IV-Regelsätze forderten, heftig attackiert. Jetzt droht das Paket ein Flop zu werden. »Trotz immenser Werbekampagnen ist das Interesse leider sehr gering«, stellt Kölns Bildungsdezernentin Agnes Klein (SPD) fest. Von den 56.000 Anspruchsberechtigten in Köln haben Ende Mai 7900 Menschen einen Antrag gestellt – das sind 14 Prozent, trotz Briefen, die in Schulen und Kitas verteilt werden, Flyern, die in Beratungsstellen ausliegen, Infos im Internet. Die Zahlen in anderen großen Städten sind vergleichbar.
 
Sabine Weber (Name geändert) sitzt in ihrer Küche in Vingst und blickt auf den Antrag vom Jobcenter in ihren Händen. »Erst habe ich mich total gefreut. Dann habe ich mir das Paket genau angeschaut und gemerkt: Das bringt uns rein gar nichts«, sagt die 43-Jährige. »Wir haben ja den Köln-Pass.« Seit elf Jahren zieht sie ihre zwei Kinder alleine groß und lebt von Transferleistungen: 1123 Euro bekommt sie von der Arge. Die Miete zahlt sie selbst an die GAG – und nicht wie so häufig das Jobcenter: »Ich kann ganz gut haushalten. Und wir haben uns ein Netzwerk aufgebaut«, sagt sie und blickt aus dem Fenster auf die uniformen Häuser der Siedlung.

Das Mittagessen in der Schule kostet dank Köln-Pass nur einen Euro, die Kinder gehen zweimal die Woche über das städtische Projekt »Kids in die Clubs« zum Schwimmen, und Ausflüge unternehmen sie mit der Kirchengemeinde, vor kurzem waren sie an der Mosel. Von dort hat ihre Tochter Muscheln mitgebracht. »Die hütet sie wie einen Schatz.« Nächstes Schuljahr wechsle das Mädchen auf die Realschule, erzählt Weber stolz. Man merkt der zierlichen Frau an, dass sie sich bemüht, ihren Kindern so viel Unterstützung wie möglich zu geben. Noch immer starrt sie auf das leere Blatt, das vor ihr liegt. »Ich würde ja was beantragen«, sagt sie und klingt fast ein wenig verzweifelt. »Aber was?«

Leistungen des Köln-Passes gehen über das Bildungspaket hinaus
 
Tatsächlich besteht in Köln – wie in vielen anderen Großstädten – ein gewachsenes kommunales Hilfesystem aus etablierten Einrichtungen wie dem Seeberger Treff und Sozialpässen, die ein ähnliches Angebot wie das Bildungspaket ermöglichen. »Aus Sicht der Betroffenen erschließt sich auf den ersten Blick kein Mehrwert«, sagt Bildungsdezernentin Klein. Im Gegenteil: So gingen die Leistungen des Köln-Passes, der anders als beim Bildungspaket auch Geringverdienern zusteht, deren Einkommen dreißig Prozent über dem Hartz-IV-Satz liegt, zum Teil über das Bildungspaket hinaus. Neu für Kölner Familien sei nur der Anspruch auf Nachhilfe, sofern der Lehrer in einem Gutachten den Bedarf nachweise.

In der Praxis bedeutet die »soziokulturelle Teilhabe«, die das Bildungspaket verheißt, einen Stapel an Einzelanträgen: bei der Arge, Schule, Sozialamt, Vereinen oder Bildungseinrichtungen. Und zwar alle vier Monate neu, es könnte ja sein, dass der Anspruch erloschen ist. Die Kommune muss jeweils dokumentieren, dass sie die Mittel zweckgemäß verwendet. Erst nachdem sie in Vorleistung getreten ist, kann sie beim Bund abrechnen. Der Köln-Pass gilt dagegen für ein Jahr und muss einfach nur vorgezeigt werden: etwa in der Bahn, im Zoo oder im Museum.

»Bildungspaket ist ein Bürokratiemonster«

Der bürokratische Apparat, der sich hinter dem Bildungspaket auftürmt, verschlingt viel Geld. An allen Stellen – Stadt, Jobcenter, Sozialeinrichtungen, Bildungsträgern – entsteht Mehrarbeit. »Das ist ein Bürokratiemonster«, sagt der Kölner SPD-Chef Jochen Ott. Von den rund 15,7 Millionen, die Köln faktisch beim Bund abrufen kann, fielen 18 Prozent auf die Verwaltung. Geld, das nie bei den Kindern ankommt. »Zehn Euro im Monat für den Verein, das ist ein irrwitzig kleiner Baustein in Richtung Chancengleichheit.«, erklärt Ossi Helling, sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Kölner Stadtrat. Zudem sei schon das komplizierte Antragssystem eine zu große Hürde. »So funktioniert Jugendhilfe nicht«, meint Helling. Denn die wirklich Abgehängten kämen damit nicht zurecht.  

Trotz der Kritik an der Umsetzung sind sich SPD, Grüne und die Sozial- und Bildungseinrichtungen in Köln einig: Hilfe ist bitter nötig. »Man hätte mit dem Geld viel erreichen können«, sagt Bildungsdezernentin Klein. Wenn man etwa die vorhandene soziale Infrastruktur unterstützt hätte: Mehr Geld für ein besser ausgebautes Ganztagsschulsystem, mehr Kita-Plätze, mehr Personal, ein größeres Budget für Jugendeinrichtungen. Oder wenn man den Köln-Pass pauschal mitgetragen hätte. »Damit erreicht man alle oder zumindest viel mehr Kinder. Und das Geld verpufft nicht im Papierkram«, sagt Ossi Helling.

Stadt will Ende Juli Bilanz ziehen

 
In der letzten Ratssitzung Ende Mai hat die SPD-Fraktion eine Resolution verabschiedet, in der der Rat der Stadt Köln von der Bundesregierung eine »Harmonisierung« des Pakets mit den Angebotsstrukturen des Köln-Passes fordert. Gerüchte, dass der Köln-Pass eingeschränkt werde, weist Jochen Ott von der SPD vehement zurück: »Niemals im Leben machen wir für ein nicht vernünftiges Angebot aus Berlin ein gewachsenes kommunales System kaputt.« Bis Ende Juli soll die Doppelstruktur laufen, dann will die Stadt Bilanz ziehen, so Agnes Klein: »Wenn bis dahin nicht deutlich über fünfzig Prozent der Berechtigten einen Antrag gestellt haben, ist bewiesen, dass es nicht greift. Dann muss die Bundesregierung eingestehen, dass der Fehler im System liegt.« Im Moment bleibt die Situation für Kommunen und Wohlfahrtsverbände paradox. Da jeder Antrag zusätzliches Geld bedeutet, das ihnen sonst nicht zur Verfügung stände, werben sie weiter für das unliebsame Paket.

Sabine Weber kann das alles nicht verstehen. »Für uns bleibt es doch unterm Strich gleich.« Noch einmal sucht sie den Ordner heraus, auf dem in großen roten Buchstaben Hartz IV steht und blättert die vielen Bescheide durch. »Ich würde es ja machen«, murmelt sie, »aber warum?«