No Theater

Auskünfte und Ausblicke: Matthias Lilienthal, Programmchef von »Theater der Welt«,

und Negationsdenker Diedrich Diederichsen über Programme, Konzepte und einen Theatermarathon,

wie er auf der Rheinschiene noch nicht gelaufen ist. Ein paar Wünsche an das Publikum haben die beiden auch.

StadtRevue: Herr Diederichsen, was interessiert Sie als Pop- und Kulturtheoretiker eigentlich am Theater, einem Medium, das vielen ja als hoffnungslos rückständig erscheint?

Diedrich Diederichsen: Theater ist für mich zunächst einmal kein Medium, sondern ein künstlerisches Format, in dem verschiedene Medien zum Einsatz kommen. Von seiner Geschichte her hat dieses Format bestimmte Konstanten – Bühne, Publikum, vierte Wand etc. –, die nicht unbedingt subsumierbar sind unter einen Medienbegriff. Als Verbund ist es vergleichbar mit Popmusik, die auch immer schon ein Zusammenhang aus verschiedenen Ausdrucksformen, Genres und Medien gewesen ist. Für mich ist die Verschränkung gewisser Medien mit einem Reservoir von Gattungen und einer bestimmten, also nicht beliebigen, sozialen Welt das, was ein kulturelles Format ausmacht. Ein solcher Verbund wäre Popmusik wie auch Theater, wie auch eine bestimmte Kinokultur oder eine digitale Kultur. Der biografische Grund meines Interesses am Theater war allerdings, dass ich in den mittleren Neunzigern von Köln nach Berlin gezogen bin – wo die kulturell spannenden Fragen eher in einem Theatermilieu diskutiert werden und nicht so sehr in einem der Bildenden Kunst, während das in Köln anders herum war. Der entscheidende Punkt ist ja immer: Wo kommen das Ästhetische und das Politische zusammen, ohne sich gegenseitig aufzuheben oder zu terrorisieren?

SR: Herr Lilienthal, Sie haben im Vorfeld gesagt, Theater der Welt (TdW) wolle einen neuen Begriff des Politischen thematisieren. Wie soll das konkret aussehen?

Matthias Lilienthal: Zum Beispiel stellen wir eine Gruppe junger Performer vor, die sich Rimini-Protokoll nennt. Die standen irgendwann im ehemaligen Plenarsaal des Bundestags in Bonn und sagten: Das sieht genauso aus wie der Bundestag in Berlin. Die Gruppe denkt über Fragen wie Kopie, Copyright und Verdoppelung nach und will eine Bundestagssitzung, die in Berlin stattfindet, verdoppeln und gucken, was dann passiert.* Das Ganze heißt »Deutschland 2«. Dabei dreht es sich nicht darum, einen neuen Begriff des Politischen zu definieren, aber bei so einer Aktion findet ein Nachdenken darüber statt, was Fälschung ist, was ein Parlament ist, was Repräsentation bedeutet und was Volksvertreter sind. Schauspieler und Publikum sind hier in der bekannten Form gar nicht mehr vorhanden. Vielmehr ist dies eine Art von sozialer Plastik, bei der Leute eingeladen werden mitzumachen.

SR: Wie sieht überhaupt die Arbeit eines Programmmachers bei einem Festival mit Weltradius aus?

ML: Dieses Festival machen heißt, in der Welt rumfahren, morgens um Zehn in einem Café sitzen und Theatermenschen treffen. Manche Biografien, Konstruktionen und Theatervorstellungen interessieren und begeistern einen, und dann wird es ein Abenteuer. Frühere Festivalmacher haben aus je einem Land eine Produktion eingeladen. Bei uns gibt’s Zentrierungen, die in bestimmten geografischen und thematischen Regionen funktionieren. Ich sag nicht: »Es geht um diese oder jene Ästhetik« und »Ich weiß, was gut und schlecht ist«. Tatsächlich gibt es in der Realität plötzlich merkwürdige Geschehnisse, die aussehen, als wären sie Kunstereignisse. Wenn in einem wirtschaftsbankrotten Argentinien, wie vor einigen Monaten geschehen, ein Bürger sagt: Ich kann zwar jetzt kein Geld mehr von meiner Bank abheben und deshalb nicht in den Urlaub fahren, habe aber das dringende Bedürfnis danach – draußen sind 40 Grad –, und dann in die größte Filiale der HSBC-Bank mitten in Buenos Aires geht, sich dort in der Badehose auf einen Liegestuhl ins klimatisierte Foyer setzt und sagt: Hier mache ich jetzt Urlaub!, dann wirkt das wie eine theatralische Aktion. Ein Experiment entsteht und es stellt sich die Frage: Wie funktioniert der Kapitalismus, wenn keiner mehr Geldscheine hat? Welche neuen Formen stellen sich her? Es wäre zwar zynisch, das rein ästhetisch wahrzunehmen, aber da sind plötzlich neue Situationen, Fragestellungen, die wir uns noch nicht einmal in Albträumen hätten ausdenken können.

SR: Wie fließen solche Beobachtungen in Ihre Programmatik ein, unterscheidet sie sich von denen der Vorgänger?

ML: Auch wenn es »Theater der Welt« heißt, so befinden wir uns 20 Jahre nach der Gründung doch in einer anderen Situation. 2002 ist der Druck, wieder Peter Brook, wieder Ariane Mnouchkine, wieder Robert Wilson einzuladen vielleicht geringer. Man hat die Chance zu gucken: Was ist mit Johan Simons und seiner Gruppe Hollandia (s. dazu S. 66, d. Red.), was ist mit Daniel Veronese und Luk Perceval? Theater in einer Welt wie heute muss schneller werden und sich mit einer anderen Art von Aggressivität gegen die Konkurrenz anderer Medien behaupten. Das Theater hat eine gewisse Diskurshoheit verloren. Ich hab’ die scharlatane Lust, sie wieder zu beanspruchen.

SR: Lässt sich denn der politische Anspruch des Festivals in Diederichsens Überlegungen einordnen, die er in Texten wie »Adornos Taschentuch. Möglichkeiten und Strategien des Nonkonformismus« oder »Die Kraft der Negation« formuliert hat? Letzterer Titel überschreibt ja auch die von Diederichsen kuratierte Diskurs-und-Konzert-Veranstaltung, das Thematische Wochenende vom 27.-29.6. in Köln.

ML: Wir haben uns öfter getroffen und über Zusammenhänge gesprochen und sind so auch zu dem Thematischen Wochenende gekommen. Die Erfindung der Thematischen Wochenenden an der Volksbühne in Berlin zum Beispiel gab es, weil es natürlich Quatsch ist, vom Theater zu verlangen, es solle einen Begriff formulieren oder ein Statement zu diesem oder jenem abgeben. Aber über ein Panel, eine Diskussion im Theater kann man etwas herstellen, was mir super wichtig ist: dass die Szenen aus Kunst, Musik, Philosophie und Theater sich begegnen; dass Theaterleute anfangen, sich dafür zu interessieren, was Herr Diederichsen quatscht, was Giorgio Agamben sagt, der hoffentlich an diesem Wochenende auch da sein wird, und umgekehrt. Es ist also nicht so, dass Diederichsen eine Philosophie vorgegeben hat, und dann rennt Herr Lilienthal los und guckt, welches Theater dazu passt. Auch wenn ich von Texten wie »Adornos Taschentuch« beeinflusst bin.

SR: Das Festival will auch die »Auswirkung der Globalisierung in den Künsten« untersuchen. Inwiefern würden Sie, Herr Diederichsen, hier ihren Begriff der künstlerisch-politischen Negation einsetzen?

DD: Was die Negation angeht, war die Überlegung zunächst mal nicht auf Globalisierungsfragen beschränkt. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Inwiefern ist es einer von den Künsten her operierenden Initiative noch möglich, etwas in dem Sinne zu verneinen, dass es ein politisches Nein ist. Dabei wäre meine These: Die Art und Weise, wie die beiden Bereiche Kunst und Politik Negation formulieren und aktualisieren, hat sich verändert.

SR: Inwiefern?

DD: Ich würde sagen, das alte Verhältnis war, dass oppositionelle Politik, im weitesten Sinne verstanden, dazu tendierte, die Künste, die eher anarchisch auftraten, im Namen von positiven Werten und Zielen an die Kandarre zu nehmen. Die politisch Aktiven hatten kein Sinndefizit, sondern dämmten von ihrer Position aus tendenziell ein, was die Künste taten, um es besser benutzen zu können. Heute ist die Entwicklung die, dass es in den Künsten selbst schon verbreitet das strategische Denken gibt. Die Künste selbst denken sozialhygienisch, sozialtechnisch, natürlich auch karrieretechnisch. Sie züchten sehr stark soziale Kompetenzen an sich selbst. Auf der anderen Seite kann die oppositionelle Politik, wie wir sie zum Beispiel in Genua gesehen haben, eben nichts mehr benennen, in dessen Namen sie agiert, außer im Namen von »No«, also einer Negation.

SR: Heißt das im Umkehrschluss, dass von den Künsten eher eine utopische Kraft ausgehen kann als von den Nein-Sagern in der Politik?

DD: Man kann zumindest zeigen, dass die Selbstreflexion der Künste, zumal der bildenden Künste, dazu beigetragen hat, dass sich ein Selbstverständnis der Politizität des Handelns von vielen Leuten weiter verbreitet und eine politische Realität gewonnen hat. Aber das steht natürlich in keinem Verhältnis zu einem Begriff wie politische Kraft.

SR: Wer heute ein Festival namens »Theater der Welt« macht, muss natürlich die Globalisierung ansprechen. Kann man die überhaupt auf die Bühne bringen?

ML: Theater ist nicht dazu da, die Globalisierung zu untersuchen. Die indische Choreografin Padmini Chettur zum Beispiel nimmt die Folklore aus den traditionellen Tänzen heraus und erzählt eine ganz heutige Geschichte von der Zerbrechlichkeit von Körpern in der indischen Gesellschaft. Das sind Momente, wo unser Blick Theater mit Globalisierung verbindet.

SR: Bei der Durchführung eines renommierten Festivals wie TdW, das seit 1981 existiert und immer von ersten Theaterleuten des Landes kuratiert wurde, muss man auch mit einem bürgerlichen Publikum rechnen. Setzen sie Ihre Ideen und Programme einfach hin, auch bei der Gefahr, dass nur zehn Leute kommen?

DD: Ich hab’ ja keine Erfahrung mit dem Theaterpublikum in Köln oder den anderen Städten. Ich kenne aber das Publikum vieler anderer Szenen hier gut. Mir schwebt da eine ideale Synthese aus beidem vor (lacht): Die Kölner Diskursszene und die der Bildenden Kunst sowie die im Vergleich mit anderen deutschen Städten immer noch einigermaßen lebendige Restalternativswelt. Das sind drei Stränge, auf die man sich in Köln verlassen kann. Die haben aber alle das gleiche gestörte Verhältnis zum Theater wie ich, als ich hier gelebt habe. Andererseits habe ich in Berlin erlebt, wie gut es geht, dass Theaterräume sich für diese Kulturen öffnen.

ML: Was wir in Köln machen, ist der Versuch, das Modell Kinofestival auf Theater zu übertragen. Am ersten Tag können sie um 11 Uhr das Kindertheater »Buchettino« in Duisburg gucken, um 16 Uhr »Apocalypse 1, 11« im Gefängnis in Köln-Ossendorf, eine pasolinihafte Leidensgeschichte eines jungen Brasilianers, der in die Mühlen der Kriminalität gerät, um 20 Uhr »Jiang Jie«, eine Peking-Oper aus der Kulturrevolution, bei der unser heutiger Blick auf sie thematisiert wird, und um 22 Uhr dann noch eine Inszenierung des Argentinieres Veronese über Selbstmord. Beim Publikum würde ich mir eine Haltung wünschen, dass man drei, vier Mal am Tag ins Theater geht – meinetwegen auch nach einer halben Stunde wieder raus – und ausprobiert, wo sich spannende Szenarien abspielen.

SR: Kritiker haben Ihnen bereits dieses Kinohafte vorgeworfen, die vielen kurzen Vorstellungen, fünf Mal hintereinander ins Theater...

ML: ...ein spannender Theaterabend ist spannend, wenn er 45 Minuten lang ist, und wenn er fünf oder sieben Stunden dauert wie Castorfs »Erniedrigte und Beleidigte« oder Krystian Lupas »Auslöschung«. Für mich gibt’s da keine Normierung. Ich weiß doch gar nicht mehr, was Theater ist! Eine Kategorisierung – das ist Theater! – interessiert mich gar nicht. Entweder haben wir was zu versenden, und dann egal in welcher Länge, oder nicht.

SR: Sie beide haben sich, um den Begriff der Negation zu umreißen, auf Herman Melvilles Bartleby-Figur aus der gleichnamigen Erzählung geeinigt. Dessen Credo »I would prefer not to« hat ihn zu einer paradigmatischen, fast legendären Verweigererfigur des 19. Jh. werden lassen. Was genau macht ihn so interessant?

DD: Wir haben ein Feld, in dem es die Künste und die Politik, ein strategisches und ein absolutes Denken gibt, und Bartleby steht für die subjektive Dimension. Zuletzt hat Bartleby ein kurioses Interesse von verschiedenen Seiten erfahren: Deleuze, Agamben, Luigi Nono, Enrique Vila-Matas. Judith Hopf, die wir eingeladen haben, versucht in ihren Videos immer wieder, einen hippen Verweigerer der Hipness zu konstruieren. Bei Agamben ist es die Figur des Potenzials, die uns auch zu dem Titel des Thematischen Wochenendes inspiriert hat.

SR: Wenn Verweigerung als aktuelle Zeitdiagnose dient, was ist der Unterschied zu den späten 70ern, zum Punk, wo die ästhetische Geste des ausgestreckten Mittelfingers prominent wurde?

DD: Punk kam eben an, Punk wurde gehört. Bartleby entzieht sich, hat keine Resonanz. Eine Uridee an »Kraft der Negation« war, dass die kulturelle, die symbolische Negation, für die Punk steht, nicht mehr als Negation gehört wird. Wenn jemand Nein sagt, dann hat er eben den Nein-Club gegründet und das Nein-Label, wunderbar, ist doch prima. Das ist der Unterschied zwischen den beiden kulturellen Modellen Punk und – dem auch viel stilvolleren – Bartleby.

ML: In den 90er Jahren gab es eine gewisse Versöhnung mit dem Kapitalismus. Werbeagenturen und Design haben Formen von Protest und Revolte immer wieder aufgesogen. Plötzlich war die Werbeagentur sogar so etwas wie die Avantgarde der Revolte. Jetzt gibt es viele Leute, die sagen: Wir wissen nicht, wohin wir wollen, aber wir wissen: So nicht! Mit solchen Sachen hat Theater etwas zu tun und liefert manchmal genaue Situationsbeschreibungen.

SR: Kommt Ihnen eigentlich die Fussball-WM in die Quere?

ML: Die Spiele sind alle tagsüber. Wir werden sie sicher aufzeichnen und vor Ort zeigen... (lacht). Am letzten Tag des Festivals ist auch das WM-Endspiel – das Festival hat aber gegenüber der WM den Vorteil, dass man es schon nach zehn Tagen hinter sich hat. (lacht)

DD: Bei »Kraft der Negation« dürften die Deutschen eh bereits negiert sein... Aber es ist schon interessant, dass die Idee eines anderen Theater der Welt die ganze Zeit im Hintergrund mitspielt. Abgesehen davon beginnt 14 Tage vorher die Documenta. Die Wochen sind also der Globalität gewidmet, dieses Thema wird quasi von Naturereignissen an die Oberfläche gespült.

* Aufgrund des aktuellen Verbots von Bundestagspräsident Thierse findet »Deutschland 2«
voraussichtlich nicht im ehemaligen Bonner Plenarsaal statt, sondern in der Oper Bonn.