© Manfred Daams

»Es sind einsame Typen«

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Jo Lendle über Ballonfahrten, rezeptfreie Literatur, reisende Bücher – und seinen neuen Roman

 

StadtRevue: Herr Lendle, in »Alles Land« erzählen Sie vom Leben des deutschen Polarforschers Alfred Wegener, der um 1911 die Theorie der Kontinentaldrift aufgestellt hat. Warum eigentlich Wegener?

 

Jo Lendle: Ursprünglich wollte ich einfach wissen, wer uns den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Wer derjenige war, der die Idee hatte, dass die Kontinente sich bewegen. Beim Lesen seiner Aufzeichnungen und von Texten über ihn ist mir aufgefallen, dass Wegener über diese weltumstürzlerische Ansicht hinaus ein sehr aufregendes Leben hatte. 

 

Und wie wurde aus dem aufregenden Leben ein spannender Roman? 

 

Die ersten Szenen habe ich 1998 geschrieben. Dann hab ich den Text eine Weile weggelegt. Aber die Geschichte hat mich seitdem immer begleitet. Ich habe lange überlegt und experimentiert, wie ich sie erzähle. Anfangs wollte ich alles aus der Perspektive seiner Frau Else erzählen, zwischendurch war es ein Theaterstück, dann ein Roman, in dem ein Theaterstück über Wegener aufgeführt werden soll. Am Ende hab ich gesagt: Ach komm! Ich erzähl jetzt einfach mal sein Leben, dann bekomm ich’s am pursten.

 

Wie viel an der Geschichte ist Fiktion, wie viel historisch belegt?

 

Es ist vielleicht zur Hälfte Wegeners Leben und zur Hälfte mein eigenes Leben, das ich ihm unterstelle. Vieles von dem, was er in Grönland erlebt, ist sehr nah an der Realität, wohingegen das meiste, was hier in Deutschland passiert, völlig frei erfunden ist. Aber auch da gibt es manches, das auf wahren Begebenheiten beruht: Er hat zum Beispiel wirklich den damaligen Weltrekord im Dauerballonfahren mit 52 Stunden aufgestellt, mehr oder weniger unbeabsichtigt. Das Irre an Wegener ist, dass er in so viele verschiedene Richtungen Interesse entwickelt hat. Und alles, was er angepackt hat, wollte er auch richtig machen – er hat sich dann reingefuchst und die Sachen durchgezogen.

 

Die Geschichte wirkt sehr archaisch, obwohl sie nur etwa hundert Jahre zurückliegt. Wie kommt das?

In Wegeners kurzer Lebensspanne haben sich fundamentale Dinge verändert, durch Einstein etwa oder Freud, in wissenschaftlicher Hinsicht, aber auch technisch. Wegener hat die erste motorisierte Expedition zum Nordpol gemacht. Es hat noch nicht alles geklappt, aber er wusste, dass er es einfacher hatte als die Leute vor ihm. Andererseits ahnte er, dass schon zehn Jahre später andere über seine Anstrengungen lächeln würden. 

 

Wie passt Wegener zu den Figuren Ihrer beiden anderen Romane?

 

Die drei Charakere sind einander ziemlich nah, auch wenn die Geschichten vor völlig unterschiedlichen Hintergründen spielen: Es sind sehr einsame Typen, deren Leben aus dem Ruder gerät. Insofern kann man die drei Romane quasi als eine Trilogie der Einsamkeit lesen. 

 

Hauptberuflich arbeiten Sie als Verleger und Lektor. Sieht man da den eigenen Text schon beim Schreiben mit anderen Augen?

 

Nein. Mich ärgert manchmal eher, welche grundlegenden Dinge ich vergesse, wenn ich selbst schreibe. Ich glaube aber schon, dass die Beschäftigung mit Literatur das Schreiben prägt, egal ob man Literatur einfach gerne mag oder damit arbeitet. Ich hatte lange Schwierigkeiten, die beiden Rollen zusammenzubringen. Nach der Arbeit tagsüber im Büro, bei der ich alle Texte in Zweifel ziehe, abends dran zu glauben, dass meine eigenen Sachen zweifellos gültig sein sollen, ist schon relativ unverfroren. Ich musste dann die Strategie wechseln und morgens schreiben.

 

Sie haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Beeinflusst das die Art zu schreiben?

 

Ich halte nichts von der These der »Institutsprosa«. Die Texte von Studenten des Literaturinstituts unterscheiden sich so wesentlich voneinander, dass ich das empirisch nicht bestätigt sehe. Die Vorstellung ist immer, dass man in den Instituten Rezepte lernt, die der Leser in den Büchern ausbuchstabiert findet. Tatsächlich haben wir nie ein einziges Rezept gelernt. Der Vorwurf der Erfahrungsarmut trifft allgemein auf junge Literatur zu, aber auf Bücher aus den Instituten nicht mehr als auf andere.

 

Beim diesjährigen Bachmannpreis hat sich wieder gezeigt: Deutschsprachige Autoren kommen überwiegend aus Berlin – sogar die Schweizer. Wie beurteilen Sie die Kölner Literaturszene?

 

Ich habe drei Jahre das Literaturatelier mitgeleitet, wo sich Kölner Autoren treffen. Es gibt schon auch gute Autoren, die hier leben und mit denen man Lesungen machen kann, aber man muss sich nichts vormachen: Das Nest Berlin ist da reicher und voller gesteckt. Aber das Schöne an der Literatur ist ja, dass sie nicht ortsgebunden ist. Bücher reisen gut.