Dienstag, 13:18 Uhr: Der Autor blickt ernst in Richtung Kamera, Foto: Manfred Wegener

Hodenkrebs in der Villa Massimo

Ehekrisen, Tote und Revolutionen – eine Leseerfahrung mit Navid Kermanis neuem Roman Dein Name

Es ist Sonntag, der 21. August 2011, 10:25 Uhr auf dem Digitalwecker. Die Artikelschreiberin hat das Buch zur Hand genommen, das zwei Tage vorher im Briefkasten lag. 1,3 Kilo Dünndruckpapier, kein schönes Gefühl, eher beängstigend. Die Essenz der ersten Abschnitte: Ein »Romanschreiber, der Navid Kermani heißt,« lebt vor sich hin, hat Heuschnupfen, liest Mails, telefoniert mit dem Vater, will sich trennen. Kann das über 1229 Seiten tragen?

 

Auf Seite 9 immerhin der Vorgriff auf ein größeres Thema – Navid Kermani muss »die Handlung des Gedächtnisses herausfinden, das er verrichten will«. Um Tote soll es gehen. Sie sind neben den Künstlern die einzigen, die Namen tragen dürfen in diesem Monument von einem Buch. Alle anderen sind Rollen – Frau, Vater, Verleger – im Leben desjenigen, der selbst nur aus Rollen zu bestehen scheint: Romanschreiber, Vater, Freund, Sohn, Enkel, Berichterstatter, Nachbar. »Nummer 10« in der Villa Massimo in Rom.

 

Zunächst also die Toten. Auf den ersten hundert Seiten sind neun mehrseitige Abschnitte Verstorbenen gewidmet, die für den »Romanschreiber« persönlich von Bedeutung waren, die Schauspielerin Claudia Fenner etwa oder der Ethnologe Georg Elwert. Danach sinkt die Zahl der Nachrufe rapide. Ihre Stelle im Sinne eines thematischen Leitfadens überlassen die Toten den Künstlern: Auf Seite 54 wird Hölderlin zum ersten Mal erwähnt. Bald danach besteht gefühlt das halbe Buch aus absatzlangen Hölderlin-Zitaten, jedenfalls so lange, bis Jean Paul ins Spiel kommt und beide sich die Zitatanteile streitig machen.

 

Um die Zitate herum geht derweil das Leben weiter, fliegt der »Berichterstatter« für Reportagen nach Afghanistan und Kashmir, hält der »deutsche Islam« Vorträge über Integration, erlebt der »Vater« eine zweite Geburt, bekommt »die Nummer 10« der Villa Massimo die Diagnose Hodenkrebs. Der »Enkel« findet überdies die »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul lässt grüßen) seines Großvaters und generiert daraus eine Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert. Da zeigt sich zwischen den Zeilen der hochangesehene Orientalist, dessen fachliches Oeuvre bisher breiteren Zuspruch gefunden hat als das literarische.

 

Bereits am Donnerstag, dem 25. August 2011, 14:27 Uhr, bestätigt die Romanleserin die metanarrative Einschätzung des »Romanschreibers« auf Seite 405: allein schon die Länge des Romans läuft »auf seine schiere Unlesbarkeit hinaus«. Die Menge sich verheddernder Erzählfäden – teilweise fließen sie im gleichen Absatz ineinander über –, trägt kaum zum Wohlwollen der Romanleserin bei. Zunehmend stolpert sie über Grammatikpatzer, schlampig abgeschriebene italienische Ortsnamen, als hätte selbst der Lektor vor der Unlesbarkeit kapituliert.

 

Je weiter die Romanleserin sich durch die Seiten arbeitet, desto öfter fragt sie sich: Wozu? Warum vier, fünf Werke in eines verschachteln, wenn man auch vier oder fünf schreiben könnte? Die Antwort, natürlich: Ein Experiment. »Die Wirklichkeit scheint voller Zufälle. […] Der Roman, den ich schreibe, behauptet, daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen.« Somit steht das Werk vor allem in der Tradition Jean Pauls, dem Kermani 2009 seine Frankfurter Poetikvorlesung gewidmet hat, der Meister des Unwesentlichen, das zum Wesentlichen sich häufen soll. Kermanis Fragmente, so ausgefeilt sie im Einzelnen formuliert sind, fügen sich aber nicht zum Gesamtbild. Dazu ist die Alltagsstruktur, die Eindrücke, Nachrufe, Poetologie, Historie, Erzähltheorie zu einem Leben verbinden soll, zu inkonsequent eingesetzt – gegen Ende frisst die Poetologie den Alltag gänzlich.  

 

Am Mittwoch, den 7. September 2011, 12:03 Uhr auf dem Digitalwecker, klappt die Artikelschreiberin den hinteren Buchrücken über die Seite 1229. Die Redaktion hat eben per Mail daran erinnert, dass eine eigenständige Form gefunden werden müsse, schließlich sei der Roman bei Erscheinen des Artikels schon in sämtlichen Feuilletons und TV-Formaten abgehandelt. Vielleicht, denkt die Artikelschreiberin, könnte man den Roman nachzeichnen: Seine verschrobene Ausdrucksweise, die distanzierte Erzählperspektive, das krampfhafte Dokumentieren der Erzählzeit, die unreflektierte Darstellung der Prozesse, die dem Erzähler wichtiger scheinen als das Ergebnis – so ließe sich das Charakteristische am treffendsten zeigen. Also öffnet sie auf dem Laptop (der Romanschreiber würde »Allmacht« sagen) eine neue Datei, nennt sie DeinName.doc und beginnt zu schreiben.