Foto: Till Müllenmeister

Teilhabe nicht erwünscht

Der Hype der Kulturellen Bildung hilft vor allem der Mittelschicht, ihren Status gegenüber sozial Benachteiligten zu sichern, meint Hans-Christoph Zimmermann

Die schmächtige Lehrerin hält das Reclamheftchen wie eine Waffe vor sich. Das Bedrohungspotenzial eines Stücks von Schiller kann ihre Klasse, die nur aus Migranten besteht, nicht beeindrucken. Jungs mit anabolischem Mundwerk albern mit koketten verschleierten Girlies herum, man nölt, rüpelt und rempelt – wie der Migrant eben so ist. Die Autorität der Lehrerin, die selbst türkischer Abstammung ist, wie sich später herausstellt, bleibt pädagogischer Wunschtraum, bis einem Schüler eine Pistole aus der Tasche fällt. Die Pädagogin greift beherzt zu und macht nun, die 38er im Anschlag, Ernst mit Schillers Theorie der ästhetischen Erziehung.

 

Es gibt derzeit kein klügeres und unterhaltsameres Stück zum Hype der Kulturellen Bildung als »Verrücktes Blut« von Regisseur Nurkan Erpulat und Dramaturg Jens Hillje. Seit einigen Jahren türmt sich die Modewelle der Kulturellen Bildung immer höher auf. Inzwischen reicht die Lobby von kleinsten Kommunen über die Bundesregierung bis zur Unesco. Was ist der Grund für diesen Hype?

 

Wenn Abstiegsängste wachsen, wachsen auch Distinktionsbedürfnisse

 

Die ideologische Durchsetzung der Kulturellen Bildung kommt fast gleichzeitig mit den Meldungen vom sozialen Abrutschen der bürgerlichen Mittelschicht auf. Die Sicherungsnetze werden löchriger, die Finanzkrise bedroht klassische Instrumente der Lebensplanung wie Lebensversicherungen, die Aufstiegschancen innerhalb der Mittelschicht nehmen ab, nennenswerte Zuwächse gibt es nur noch im oberen Einkommensbereich, prekäre Arbeitsverhältnisse häufen sich. Das Sicherheitsgefühl der Mittelschicht ist weitgehend zerstört, und die Entwertung ihres ideologischen Basisprogramm – Stichwort: »Aufstieg durch Leistung« – kratzt am Selbstwertgefühl.

 

Wenn die Abstiegsängste wachsen, wachsen auch die Distinktionsbedürfnisse und da kommt die Kulturelle Bildung gerade recht. Die bürgerliche Mittelschicht als ihr Träger definiert, was Kultur und was Bildung ist und macht beides zur Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe. Die Basis dafür hat die Politik gelegt, indem sie erst nach Jahrzehnten anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Mit dieser nur widerwillig akzeptierten Erkenntnis ging im Gegenzug der Wille verloren, Integration, Bildungschancen und Teilhabe politisch durchzusetzen. Es fand eine Begriffsverschiebung statt. Je länger die Politik Lösungsansätze verhinderte, desto mehr verlagerte sich die Debatte in die Sphäre des Kulturellen: Multikulti, Interkultur oder eben Kulturelle Bildung.

 

»Die Mitte hat eine notorische Neigung zur Bigotterie«

 

Von welcher Kultur aber ist überhaupt die Rede? »Der moderne Kulturbegriff«, schreibt der Soziologe Dirk Baecker, »ist das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens.« Die eine Kultur steht idealerweise gleichberechtigt neben der anderen. Kulturelle Bildungsaktivisten sprechen zwar gerne von Kulturen im Plural, gebrauchen den Begriff aber letztlich nur im engen Sinn von Kunst, denn nur so ist der Aufbau gesellschaftlicher Barrieren möglich, die die Mittelschicht zur Sicherung des eigenen Status‘ herbeisehnt.

 

So setzt die Propaganda für die Kulturelle Bildung zu dem Zeitpunkt ein, als mit den Ergebnissen der Pisa-Studien klar geworden ist,  dass dieses Land gewaltige Probleme mit Analphabeten, Schulabbrechern oder schlecht Ausgebildeten hat und an der sozialen Undurchlässigkeit seines Bildungssystems etwas ändern muss. Die Konsequenz daraus führt allerdings in ein Paradox: Je mehr Bildung, desto weniger taugt sie noch dazu, sich abzugrenzen. Also propagiert die Mittelschicht die Kulturelle Bildung, schickt ihre Kinder derweil zum Auslandsaufenthalt oder sucht nach Privatschulen. »Die Mitte hat infolgedessen eine notorische Neigung zur Bigotterie«, schreibt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

 

Kultur ist nicht neutral oder wertfrei zu haben

 

Glaubt wirklich jemand, dass ohne Nachhaltigkeit verabreichte Kulturappetizer etwas an der Tatsache ändern, dass vielen Jugendlichen bereits aufgrund ihres sozialen Herkommens sowohl ihre Schullaufbahn wie ihr Platz in der Gesellschaft zugewiesen wurden? Die Mittelschichtsideologie der Kulturellen Bildung verschleiert, dass es primär um soziale und politische Fragen geht. Das kann man Dekadenz nennen. Man kann es aber auch mit einem Terminus des postkolonialistischen Theoretikers Edward Said als »ideological pacification« (ideologische Befriedung) beschreiben. Kultur ist nicht neutral oder wertfrei zu haben, sie hat in der Geschichte immer wieder zur Sedierung von Ansprüchen gesellschaftlich Benachteiligter gedient. Es ist die Frage zu stellen, ob es der Mittelschicht wirklich um Inklusion mithilfe der Kulturellen Bildung geht oder nicht vielmehr um Ruhigstellung. Wie die funktioniert, dazu muss das (Bildungs-)Bürgertum nur auf seine eigene Geschichte schauen.

 

Es war der um Goethe und Schiller sich entwickelnde Mythos Weimar samt dem Slogan vom »Land der Dichter und Denker«, der die Kulturelle Bildung in die gesellschaftliche Poleposition führte. Der Adel verweigerte dem Bürgertum die politische Teilhabe, das daraufhin die Selbstverwirklichung des Menschen aus dem Reich des Politischen ins Ästhetische verschob. »Das in bildungsbürgerlichen Kreisen verbreitete Gefühl der Überlegenheit speist sich nicht aus politischer Macht oder materiellem Vermögen, sondern aus einer Bildung, durch die erst der Mensch zum Menschen werde«, schreibt Herfried Münkler dazu.

 

Politische Impotenz wurde kompensiert durch ästhetische Bildung, schlimmer noch: Kunst und Kultur sollte an die Stelle von Politik treten. Nach Münkler wurde der Weimaraner Bildungsmythos später immer dann aktiviert, »wenn die politische Ordnung wieder einmal zuschanden gegangen war« oder zuschanden zu gehen droht wie derzeit der Status der Mittelschicht im Maelstrom der Wirtschaftskrise.

 

Social engeneering heißt jetzt cultural engeneering

 

Zugleich setzt die Kulturelle Bildung den längst verabschiedeten Glauben der alten Sozialdemokratie an die sozialpolitische Steuerung der Gesellschaft wieder auf die Agenda. Aus dem social engeneering der 70er Jahre ist jetzt ein cultural engeneering geworden, an dessen Wesen alle gesellschaftlich und ökonomisch Benachteiligten genesen sollen. Verblüffend  daran ist, wie sich diese Haltung mit der von stockkonservativen Migrantenfamilien deckt.

 

In einer neuen Studie der CDU-nahen Konrad Adenauer-Stiftung haben die Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak und Aladin Al Mafaalani das Bildungsversagen von Kindern aus konservativen Einwandererfamilien untersucht. Die Gründe liegen neben den Respekt- und Autoritätsstrukturen der Familie vor allem im Glauben an die Schule als staatliche Institution, die den Kindern alles beibringe, ohne dass dafür zu Hause Grundlagen geschaffen werden müssten. Der Hype der Kulturellen Bildung stützt diese Einschätzung: Der Staat und die Institutionen werden es schon richten. Gleichzeitig tönen uns die Lobeshymnen auf die Zivilgesellschaft oder den »aktivierenden Sozialstaat« entgegen.  

 

Kulturfunktionäre erheben allen Ernstes Ansprüche auf die Sozialetats

 

Dass die Kulturelle Bildung ihre kritiklosesten Parteigänger in den Kulturinstitutionen findet, verwundert nicht. Kunst, Theater, Literatur oder E-Musik sehen darin eine Chance, in Zeiten schrumpfender Etats vom finanziellen Katzentisch wegzukommen. Endlich nicht mehr auf freiwillige Leistungen der Kommunen angewiesen sein, endlich die gesellschaftliche Rundum-Legitimation erhalten, endlich: mehr Geld erhalten. Mit der kulturellen Generalmobilmachung soll das gelingen.

 

Auf Diskussionsforen ist derzeit zu erleben, wie manche Kulturfunktionäre allen Ernstes schon Ansprüche auf die Sozialetats erheben. So in diesem Jahr Christian Esch, der Leiter des Kultursekretariats NRW bei einer Podiumsdiskussion zur Zukunft der Theater in Wuppertal. Die Folgekosten einer Kunst, die primär angewandte Kunst ist, die ihre Autonomie aufgibt, werden dabei nur ungern thematisiert. Das Fernziel einer solchen Politik dürfte die Aufnahme von Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz sein – angesichts der derzeitigen Debatten um die Kulturelle Bildung muss man die Frage stellen, wer davon profitiert. Vermutlich weder die Kunst, noch die Bildungswilligen, sondern allein die auf Abgrenzung bedachte Mittelschicht.