Von links nach rechts: Insa Wilke, Foto: Manfred Wegener

»In der Literatur gibt es kein Haltbarkeitsdatum«

Literaturhaus-Leiterin Insa Wilke über das Engagement deutscher Autoren und Latte macchiato in Berlin

StadtRevue: Frau Wilke, im Frühjahr wurde viel über die deutsche Gegenwartsliteratur geklagt. Kritiker warfen Autoren vor, ihre Romane seien unpolitisch, nicht engagiert und es fehle der Bezug zu aktuellen Themen. Die Reihe »Heute ist morgen schon gestern« im Literaturhaus will dieser Klage nun nachgehen – warum?

 

Insa Wilke: Ich finde die Grundfrage dieser Debatte interessant: was heißt eigentlich Gegenwart in der Literatur, wenn in der Zukunft die Gegenwart ganz schnell Vergangenheit ist? Oder anders gefragt: Ist es überhaupt sinnvoll von Autoren zu fordern, über Themen wie Fukushima oder die Finanzkrise zu schreiben, wenn morgen schon wieder etwas anderes aktuell ist?

 

Vor allem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher warf der deutschen Gegenwartsliteratur vor, sie habe sich »in eine Parallelwelt zurückgezogen« und mische sich zu wenig ins politische Tagesgeschäft ein. Was halten Sie von dem Vorwurf?

 

Abgesehen davon, dass mit Schirrmacher nun ausgerechnet jemand für eine engagierte Literatur eintritt, der sich 1990 beim Streit um Christa Wolfs autobiografische Erzählung »Was bleibt« noch vehement gegen jedes politische Engagement von Ost- und West-Schriftstellern ausgesprochen hat, ist das ein merkwürdiges und anachronistisches Verständnis von Literatur. Das klingt ja fast wie im sozialistischen Realismus: Bitte nur positive Helden! Bitte die aktuellen Konflikte auf den Tisch! Und bitte dem Leser zeigen, wo’s langgehen soll!

 

Aber darf man nicht doch etwas mehr »Gegenwartsbezug« von Romanen erwarten? Tatsächlich wird selten von Krieg, Arbeitslosigkeit oder Terrorismus erzählt, stattdessen feiert das deutsche Romanpersonal eine »ewige Mittelstandsparty«, wie Ursula März in der ZEIT spottete.

 

Einerseits stimmt das schlicht nicht – und auch aus einer Mittelstandsparty kann gute Literatur werden. Andererseits entsteht dieser Eindruck vielleicht, weil  auch viel Mittelmaß auf den Markt kommt. Wenn ich mir jüngere Autoren anschaue, sind tatsächlich viele darunter, die »Berlin-Literatur« fabrizieren. Also fies gesagt: Figuren werden beschrieben, die im Café sitzen, Latte macchiato trinken und nichts zu erzählen haben. Es gibt aber sowohl im Stoff als auch in der Form sehr ernsthaft arbeitenden Nachwuchs, wie zum Beispiel die Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendiaten. Und es gibt ja auch noch eine ältere Schreibgeneration. Denken Sie an literarische Größen wie Marlene Streeruwitz oder Tankred Dorst, die sind alles andere als unpolitisch.


 

Ende der 80er meinten die Kritiker, deutsche Autoren wären zu verkopft und versponnen – die Folge war der Siegeszug des neuen Erzählens und des Creative Writings, das die Literatur leserfreundlicher machte. Hat diese Wende dazu geführt, dass nun Bücher nur nach ihrem Gebrauchswert beurteilt?

 

Die Debatte konzentriert sich sehr auf den Stoff. Das ist eine Verkürzung, weil Literatur gerade von der Form lebt. Auch in Schreibweisen spiegelt sich Zeit wider. Und die Aufgabe des Schriftstellers ist es nicht, Gegenwart einfach nur abzubilden. Einige Autoren reagieren schnell auf Aktuelles, aber viele müssen auch erst mal sinken lassen, was passiert ist. Sie brauchen Zeit, um ihre Form zu finden. Und es kommt ja auf die Tiefenschichten unseres Zeitgeschehens an. In der Literatur gibt es in diesem Sinne keine Haltbarkeitsdaten.

 

Apropos Haltbarkeitsdaten: der Kritiker Richard Kämmerlings wirft den deutschen Autoren vor, sie würden sich zu sehr hinter der Vergangenheit verschanzen. Dabei wäre die Nazi-, 68er-, und Wende-Zeit längst »auserzählt«?!

 

Das finde ich naiv. Als könnte man über die Gegenwart ohne die Vergangenheit schreiben! Der deutsche Wende-Roman ist das beste Beispiel. Schirrmacher und Co. haben darunter einen Roman über vierzig Jahre DDR verstanden und das, was 1989 passiert ist. So holzschnittartig funktioniert es aber nicht. Vierzig Jahre DDR haben ihren historischen Grund. Man muss also zurückgehen in die Vergangenheit. Denn Gegenwart entsteht immer aus Zeitschichten. Wenn man die ausblendet, bekommt man automatisch etwas Oberflächliches. Und dann wird als nächstes geschrien: »Wir haben jetzt zwar Gegenwartsromane, aber die sind leider alle so schlecht!«