Foto: Johannes J. Arens

Feurige Zukunft

Gerade mal eine Stunde braucht man vom Haupt­­­bahnhof Köln bis nach Lüttich. Außerdem haben die beiden Städte die eine oder andere Ähnlichkeit aufzuweisen, wie Johannes J. Arens im ersten Teil unserer Reihe »Goeiedag und Bonjour – StadtRevue unter­wegs in Belgien« erfahren hat.

Entlang der Maas glänzen experimentelle Hochhausbauten aus den 60er Jahren in der Mittagssonne. Hohe schlanke Wohntürme, die entfernt an das New Yorker UN-Hauptquartier erinnern, und Corbusier-artige Stelzenkonstruktionen, die in ihrer Extravaganz die Zukunftsgläubigkeit der 1960er Jahre wieder lebendig werden lassen. Schon die halbe Höhe der Montagne de Bueren, der Treppenstraße mit ihren 374 Stufen, bietet einen spektakulären Blick auf die Stadt. Eine alte Dame im dunklen Mantel mit fliederfarbenem Hütchen auf dem Kopf steigt Stufe für Stufe nach oben. »Schön, oder«, sagt sie kurzatmig und stellt ihre Einkaufstaschen ab. »Da hinten«, fährt sie fort und zeigt auf ein futuristisches weißes Gebäude, »da können Sie sogar unseren neuen Bahnhof sehen.« So, als würde ihr nicht nur das Backsteinhaus mit Garten zur linken, sondern gleich die ganze Stadt gehören – historischer Vorkriegsprunk und streitbare Nachkriegsmoderne inklusive.

 

Stadthistorisch haben Köln und Lüttich trotz des Größenunterschieds viel gemein. Beide haben eine römische Vorgeschichte, beide liegen am größten Fluss ihres Landes und lachen über die Bewohner am anderen Ufer. Und auch in Lüttich wusste man lange Zeit nicht genau, wie man den Spielbetrieb der im maroden Théâtre Royal untergebrachten Opéra Royal de Wallonie während der dringend benötigten Sanierung des Gebäudes aufrechterhalten sollte. 2009 entschloss man sich für eine komplette Umsiedlung bis 2012. Seitdem residiert die Oper in einer Art gigantischem Zirkuszelt in Outremeuse, auf der anderen Seite des Flusses. Eine weise Entscheidung, wie Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera unlängst betonte – die Auslastung stieg bei gleicher Zahl der Vorstellungen und einem größeren Zuschauerraum auf rund 92 Prozent.

 

Die Geschichte der 190.000-Einwohner-Stadt ist geprägt von glanzvollen Höhenflügen und dramatischen Ab- und Einstürzen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden hier Waffen gefertigt. Lüttich erhielt den Beinamen Cité ardente, »feurige Stadt«, und wurde als Zen­trum der Kohleförderung und Stahlindustrie zum Garanten des Wohlstands im heutigen französischsprachigen Belgien. Noch heute erzählen die rund 30.000 Bewohner ohne belgischen Pass mit ihrer vielfach afrikanischen oder italienischen Herkunft ein Stück Geschichte der Stadt als Industriezentrum und Umschlagplatz von Kolonialwaren. Noch immer gibt es Straßen in der Innenstadt, auf ­denen man die nach dem Ende der alten Industrie verbliebenen Arbeiter untereinander italienisch sprechen hört, und nach wie vor orientieren sich französischsprachige Afrikaner aus dem Aachener Raum zum Einkauf lieber nach Lüttich als nach Köln.

 

Als in den 1970er Jahren diese alten Industriezweige langsam abstarben, begann auch für Lüttich eine Zeit des Siechtums. Aus dem blühenden Industriestandort wurde eine graue, schmutzige und Anfang der 80er Jahre zahlungsunfähige Stadt. Das historische Herz, der Place Saint-Lambert vor dem fürstbischöflichen Palast, blieb rund dreißig Jahre eine dreckige und unübersichtliche Baustelle, eine Allegorie für den Zustand der Stadt.

 

Als eine Wiedergeburt, eine Renaissance, wurde denn auch die Eröffnung des neuen Bahnhofs und des Museumszentrums Grand Curtius vor zwei Jahren gefeiert – zwei Prestigeprojekte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Bahnhof wurde 2009 eingeweiht: Die inmitten eines eher grauen Viertels erstrahlende Rippenkonstruktion des spanischen Architekten Santagio Calatrava bewegt sich wie eine Welle in den städtischen Raum hinein und schrammt in puncto Ausstrahlung, Modernität und Grandezza so gerade noch am Größenwahn vorbei. Die 5000 Tonnen schweren strahlendweißen Stahlträger und der riesige offene Raum formen einen interessanten Kontrast zu den altertümlichen Waggons der belgischen Bahn, in denen schnauzbärtige Beamte in tadelloser grauer Uniform sich von den Reisenden auf museumsreifen roten Plüschsitzen die Fahrkarten vorzeigen lassen.

 

Der neue Museumskomplex gruppiert sich um das sorgsam sanierte Stadtpalais des Lütticher Waffenhändlers Curtius aus dem 16. Jahrhundert herum, einen am Maasufer sichtbaren Prunkbau im Stil der maasländischen Renaissance, der durch eine Anbindung weiterer Patrizierhäuser auf rund 10.000 Quadratmeter Gesamtfläche erweitert wurde. Rund 5.000 Objekte der bis dato zersplitterten Ausstellungslandschaft mit ihrem Waffen-, dem Glas- und dem Archäologischen Museum, mit den Sammlungen für dekorative und religiöse Kunst wurden in einer rund 50 Millionen Euro teuren Maßnahme zusammengefügt und erstmals in einem gemeinsamen Konzept präsentiert.

 

Weitere Prestige-Projekte sind im Anflug. Bereits 1905, 1930 und 1939 war die Stadt Gastgeber von Weltausstellungen. 2017 soll es wieder so weit sein. Sollten 2012 die Würfel zugunsten Lüttichs fallen, plant man ein 25 Hektar großes Gelände in der Vorstadt. Mit einer neuen Straßenbahnlinie erschlossen, soll es nach der Ausstellung zu einem ökologischen Vorzeigewohngebiet werden. Und auch wenn die Katerstimmung nach dem vorzeitigen Aus für die eigene Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2014 noch nicht ganz verflogen ist, erkennt man in Lüttich die Notwendigkeit, sich auch kulturell international zu positionieren. Die Stadt beteiligt sich mit Verve an der Bewerbung Maastrichts für die nächste Vorschlagsrunde im Jahr 2018, bei dem der 30 Kilometer flussabwärts zu findende Nachbar die ganze Region mit elf Partnerstädten und -regionen ins Boot holte.

 

Die wirtschaftliche Depression und den Strukturwandel hat Lüttich teilweise hinter sich gebracht. Technologie spielt nach wie vor eine große Rolle. Die wichtigsten Branchen sind die Flugzeug- und Raumfahrtindustrie, die Informations- und Biotechnologie und die Lebensmittelindustrie. Der Place Saint-Lambert ist heute eine gelungene Mischung aus historischer Rekonstruktion, Verkehrsknotenpunkt und Anfang diverser Shoppingstraßen. Die Innenstadt macht sich. Fährt man hingegen mit dem Zug durch die 1977 eingemeindeten Vororte, an den Rückseiten der Häuser vorbei, erschrickt man mitunter ob der zur Schau gestellten Verwahrlosung. Die hat zum einen mit den belgischen Prioritäten im Alltag zu tun – ein aufgeräumter Hinterhof macht noch keinen glücklich – zum anderen aber eben auch noch immer mit Armut, ­Arbeits- und Perspektivlosigkeit.

 

Die Gegensätze sind auch an anderer Stelle zu beobachten: Die knapp 20.000 Studierenden der 1817 gegründeten Université de Liège bilden in den Kneipen und Cafés des so genannten Carré, des Ausgehviertels der Stadt, einen interessanten Kontrast zum eher distinguierten alteingesessenen Großbürgertum. Dieser Mix von jung und alt, von innovativ und wertkonservativ, von dreckig und gepflegt ist vermutlich das, was Lüttich ausmacht. Nirgends ist die Stadt so einheitlich wie die großen flämischen Touristenmagneten Brügge oder Gent, in denen man sich mitunter im Freilichtmuseum wähnt. Lüttich ist, an dieser Stelle sei ein abgegriffenes Klischee erlaubt, einfach authentisch.

 

Und so hat man sich – bei aller Aufbruchstimmung, bei allem wirtschaftlichen Rückstand gegenüber Flandern und der Hauptstadtregion – immer noch etwas vom Selbstbewusstsein der vergangenen Jahrhunderte bewahrt. »Das schönste an Brüssel ist«, so sagt man, »der letzte Zug nach Lüttich.«