Foto: Manfred Wegener

1000 Siebdrucke für Andy Warhol

Kulturelle Bildung gilt als Allheilmittel, um das sich aber Künstler und Pädagogen balgen, analysiert Felix Klopotek.

Robert Rauschenberg und Andy Warhol, James Rosenquist und Edward Kienholz – sie mögen mit ihrer Kunst, die die Kunsthistoriker Pop Art nennen, an alles Mögliche gedacht haben, aber an eines bestimmt nicht: Dass sie das perfekte didaktische Material abgibt. Pop Art ist, ja, vielleicht schon ein bisschen angestaubt, aber immer noch modern, sehr präsent, knallig, offensichtlich. Man kann auch als Laie die Bilder schnell »lesen«, ihre Motive entschlüsseln – und dennoch, das ist das spezifische Geheimnis der Kunst, endlos über ihre Bedeutung, den Zusammenhang der Motive rätseln. Kurzum: Pop Art scheint ideal zu sein, um Schulklassen mit zeitgenössischer Kunst zu konfrontieren. Und dennoch bleibt das eine heikle Angelegenheit. Schüler können unberechenbar sein, vielleicht hat der Lehrer sie nicht auf den Besuch im Museum vorbereitet. Die Gefahr ist groß, dass Pubertierende den »Elvis« von Warhol sehen und maulen, das kann doch jeder! Kennen die Kids von heute überhaupt noch Elvis?

 

Und ob. Die Schulklasse, die sich da vor dem Museum Ludwig einfindet ist laut, lebendig, ein bisschen rüpelhaft. Aber all das verfliegt, wenn Georg Gartz sie in die Pop-Art-Sammlung mitnimmt und an die Kunst von Rosenquist und Rauschenberg heranführt. Gartz ist frei schaffender Künstler, die Führungen für Kinder und Jugendliche laufen für ihn aber nicht nebenher. Über die Jahre hat sich bei ihm einiges an Erfahrung angesammelt: keine allzu große Erwartungen ans Publikum stellen, andererseits die Kinder mit ihren Äußerungen und Gedanken ernst nehmen. »Was seht ihr auf dem Bild? Fangen wir doch mal unten links in der Ecke an. Was seht ihr noch? Was kann das hier sein?«, fragt er in die Runde. Über die Analyse einzelner Bildelemente stellt sich nach und nach der Zusammenhang her, das Bild entschlüsselt sich, die Kunst wirkt plötzlich nicht nur grell und krass bunt, sondern stimmig. Nach der Führung fertigt die Klasse in einem Werkraum des Museums selber Siebdrucke von Marilyn-Monroe-Motiven an – aber da ist die große Kunst schon wieder weit weg. Niemand ruft hier laut aus: Ah, so hat der Warhol also gearbeitet.

 

Kulturelle Bildung verheißt eine Win-Win-Situation, eigentlich sogar eine Win-Win-Win-Situation: Die Pädagogen freuen sich – die Schüler und Kindergartenkinder lernen über die Auseinandersetzung mit bildender Kunst, mit Theater und Tanz und schließlich auch mit musikalischen Projekten »nicht-wissensbasierte Kompetenzen«: Konzentration, Denken in Zusammenhängen, Gehörbildung, Körpergefühl, kooperatives Arbeiten. Die Museen, Theater, Konzerthäuser freuen sich – über die pädagogischen Projekte kommen sie an Nachwuchs, das Verständnis für ihre häufig sehr voraussetzungsvollen Darbietungen nimmt zu, der kulturelle Transfer funktioniert: Die nächste Generation Museumsbesucher ist gesichert. Schließlich freuen sich auch die Künstler – Kulturelle Bildung ist eine Jobmaschine, was völlig legitim ist. Davon abgesehen: die Zusammenarbeit mit Kindern hat ihren eigenen ästhetischen Reiz. Man hat es mit einem sehr phantasievollen Publikum zu tun, das zunächst einmal radikal offen ist (oder nicht so verbockt, wenn es darum geht, eigene Vorurteile in Frage zu stellen), das aber auch ständig bei Laune gehalten werden will.

 

Mitten in der Krise des zivilgesellschaftlichen Selbstverständnisses scheint Kulturelle Bildung als Oase lebendigen Wissens. Aber der Schein trügt. Thomas Glaeßer, der im Vorstand des Netzwerks »On – Neue Musik Köln« sitzt und u.a. für die Kölner Jazzhausschule aufwändige Musikprojekte in einer Kölner Grundschule betreut, spricht von den tiefen Gräben zwischen Pädagogik und Kunst. Xenia Bühler von der Theaterwerkstatt des Kindertheaters Comedia sieht andererseits die Gefahr, dass die Kunst bzw. die künstlerische Tätigkeit zu einem Allheilmittel stilisiert wird. Damit sind die beiden großen Probleme der Kulturellen Bildung angesprochen.

 

Zunächst: Kunst und Pädagogik sind nicht deckungsgleich. Wer als Komponist in Schulen geht, um mit Schülern Neue Musik zu erarbeiten, Kompositionsmodelle zu ertüfteln, vielleicht auch kleine, elektronische Tonerzeuger zu basteln, hat natürlich das Gelingen des Werks im Sinn, ihn interessiert die Eigengestzlichkeit des künstlerischen Prozesses. Das ist der Anspruch der Kunst – radikal, auch asozial. Kunst wäre nicht Kunst, wenn sie sich nicht gegen die Zwänge und Funktionalismen des (Schul-)Alltags stellte. Künstlerische Projekte in Schulen werden in vielen Fällen von Lehrern und mehr noch von einer hartleibigen Verwaltung als schmückende Beigabe für Projekttage und Ausflüge angesehen, letztlich als Fremdkörper. Dass etwa die Sülzer Gemeinschaftsgrundschule am Manderscheider Platz »experimentelles Klassenmusizieren« als integrativen Unterricht fest in den Betrieb verankert hat, ist (noch) eine echte Ausnahme. Umgekehrt garantieren »pädagogisch wertvolle« Konzepte längst keine spannende künstlerische Auseinandersetzung. Thomas Glaeßer verweist auf das Projekt »Klasse! Wir singen«. Es steht exemplarisch für eine neue Singbewegung, die die Chöre (nicht nur) in Schulen wiederbeleben und eine angeblich gute, alte Tradition deutschen Singens revitalisieren will. »Klasse! Wir singen« spricht alle niedersächsischen Grund- und Förderschulen an, es wird von der Landesregierung Niedersachsens gefördert, organisiert »Liederfeste«, stellt Notenmaterial und zum Erlernen eine »3-Sinne-Methode« zum Download bereit. Wer sich das Video mit den zigtausend singenden Schülern, die nur die allerbanalsten Melodien trällern (dürfen), bekommt ein schwiemeliges Gemeinschaftserweckungserlebnis vorgeführt. Dass Theodor W. Adorno einst einen heftigen Affekt gegen volkstümliche Chöre gehabt hat, ist sofort verständlich. Diesen Affekt haben wir jetzt auch.

 

Das andere Problem der Kulturellen Bildung ist die Stilisierung der Kunst zum »Allheilmittel« gesellschaftlicher Missstände. Schüler sollen besser erzogen werden, durch Kunst zu reiferen, vielseitigeren Menschen heranwachsen, die Institutionen sehen dadurch die Tradition »unserer« künstlerischen, musikalischen Moderne gesichert. Das spiegelt eine tiefe Krise der Institutionen wider: Mehr denn je müssen sie um Nachwuchs, um junge Zuschauerinnen und Zuschauer buhlen. Die einst revolutionären Künstler der 60er und 70er Jahre – gleich, ob es Komponisten, Theatermacher oder Maler waren – träumten von der Auflösung der Kunst in den Alltag, von der Selbstverständlichkeit der freien Phantasie. Wer hätte geahnt (oder gewollt), dass diese Kunst später einmal der Pädagogik dienen soll?

 

Das Theaterstück »Ha zwei oohh« ist eigentlich abstrakte Kunst – oder doch »nur« basalste Pädagogik? Es geht um Formen, Klänge, Materialien, um Zusammenhänge – wie reagiert was auf welchen Einfluss? Im Mittelpunkt steht, der Name verrät es, das Wasser. Wasser als Klangmittel und Projektionsfläche für Lichtspiele. Das Helios-Theater aus Hamm hat dieses Stück ohne Handlung und ohne Figuren für Kinder ab zwei Jahren konzipiert. Im Oktober gastierte es im Rahmen des »Spielarten«-Festivals in der Kölner Comedia. Und es funktioniert, die meisten Kinder sind von dem Feuerwerk (sic!) an Sinneseindrücken fasziniert, die Aufmerksamkeits hält während der dreißigminütigen Aufführung an. Danach dürfen die Kinder selber blubbern oder Schiffchen fahren lassen. Klar, dass sie schon bald an richtigen Geschichten interessiert sein werden und die Auseinandersetzung mit den Sinneseindrücken dahinter zurücktritt. Aber es wäre natürlich großartig, dieses Gespür im weiteren Bildungslaufweg der Kinder zu bewahren: Wie gesagt, eigentlich ist der Weg von den kleinen Spielen, die das Helios-Theater vorführt, zu Kompositionsmodellen der Neuen Musik gar nicht weit. Gerade aber über Neue Musik kursiert das hartnäckige Gerücht, es wäre esoterische Scharlatanerie.

 

Mit diesem Gerücht will in Köln das Netzwerk ON aufräumen. Vor fünf Jahren veranstaltete die Bundeskulturstiftung eine Ausschreibung für jeweils stadtbezogene Projekte, um experimentelle und Avantgarde-Musik in den Alltag zu integrieren. Ein Netzwerk aus Kölner Komponisten, Ensembles, Improvisatoren, Musikinstitutionen, Wissenschaftlern und Pädagogen erhielt für seine Programm­ideen den höchstmöglichen Förderungszuschlag der Bundeskulturstiftung. Seit 2008 gibt es also ON. Till Kniola, selber Konzertveranstalter, Journalist, Aktivist für Krachmusik seit vielen Jahren, ist Geschäftsführer des Netzwerkes, er stellt die vier Säulen von Initiative vor: In der »Schlüsselwerk«-Reihe, werden kanonische Werke der musikalischen Moderne in Konzerten vorgeführt, vielleicht muss man sogar sagen: aufbereitet – durchaus umstritten, denn wer legt eigentlich fest, was ein kanonisches Werk ist? Dann gibt es die »Basis«-Projekte, hier werden (angehende) Pädagogen geschult, Musiklehrer, aufgeschlossene Orchestermusiker: Wie kann man im Unterricht »elektronische Musik« vermitteln, wie erklärt man am besten, was Zwölfton-Musik ist? Eng mit der »Basis« hängt die »Botschaft« zusammen: Dahinter verbergen sich Schul- und Praxisprojekte. Musiker und Komponisten gehen in die Schulen, durchaus mit der Absicht, wie Thomas Glaeßer meint, den klassischen Unterricht zu subvertieren – eben nicht nur eine andere Musik zu vermitteln, sondern darüber auch ein anderes Lernen und Erfahren. Schließlich gibt es noch die »Plus«-Reihe mit genresprengenden Konzerten, in denen sich die strenge Avantgarde mit Pop reibt.

 

Die Auseinandersetzung mit Musik ist vielleicht das Schwierigste – und auch das Einfachste: Wer einmal die Schüler begeistert hat, sich mit ungewohnten Klängen zu beschäftigen und eigene Kompositionen und Spiele daraus zu entwickeln, kann mit ihnen sehr weit gehen. Glaeßer berichtet von Schulaufführungen, in denen die Eltern nicht mehr aus dem Staunen herauskamen: Ihre Kinder waren ihnen kognitiv und ästhetisch um Meilen voraus. Die Bundesförderung für ON läuft in diesem Jahr aus, die Stadt Köln und die Mercator-Stiftung werden in Zukunft einspringen, damit das Netzwerk seine Vorhaben fortsetzen kann.

 

ON ist klar künstlerisch positioniert, das Programm des Netzwerks entspringt einem gesunden Egoismus der Musiker und Komponisten, ihre Werke und Arbeiten vorzustellen und zu verankern. Von dieser Perspektive aus gesehen zeigt sich, dass Kulturelle Bildung tatsächlich ein utopisches Potenzial birgt: John Cage für alle! Die Zukunft würde zumindest besser klingen.