Das Gesamtkunstwerk als Scheitern

Cornelius Cardew schuf mit »Treatise« ein Schlüsselwerk der Musikmoderne – und hätte es später doch am liebsten ungeschehen gemacht

Stockhausen-Schüler/ Stockhausen-Verächter. Einflussreich-ster britischer Avantgarde-Komponist der Nachkriegszeit/ dubioseste Gestalt der britischen Szene. Schöpfer freiheitlicher Musikmodelle/ Verfechter eines ultra-dogmatischen (de facto: paro--distischen) Mao-Stalinismus. Die Biographie des Komponisten Cornelius Cardew (1936-1981) umfasst alle diese Widersprüche, und man kann sagen, dass seine künstlerische Biographie vielleicht sein bedeutendstes Werk ist (diese Aussage hätte er abgelehnt), ja, dass er ein Gesamtkunstwerk darstellt (die Feststellung hätte ihn angeekelt).

 

Aber es ist nun mal so: Hätte ihn der jähe Unfalltod zehn Jahre früher ereilt, er wäre einfach als ein wagemutiger, experimentierfreudiger, »interessanter« Komponist eingeordnet worden – wie ein Dutzend andere aus dieser Generation. Aber sein eigenes künstlerisches Autodafé, der Ernst, mit dem er in seinem letzten Jahrzehnt die Selbstverleugnung betrieb, lassen sein ganzes Werk rätselhafter, irritierender, verstörender erscheinen. Gab es einen Bruch in seinem Leben? Oder kündigte sich sein marxistisch-leninistischer Furor bereits in jenen Jahren des kühnen, freiheitsdurstig-kollektiven Aufbruchs an? Sein künstlerisches Leben beschreibt eine geradlinige, für Künstler nicht untypische Bahn: Schüler-Dasein – frühe Meisterschaft – Rückzug in schwindelerregende Höhen. Aber je näher man hinguckt, desto zersplitterter ist es.

 

Cardew lebte und arbeitete zwischen 1957 und 1961 in Köln, er war Assistent von Karlheinz Stockhausen, er ging nach  London zurück und komponierte im Geist der Zeit – Post-Serialis-mus: europäische 12-Ton-Tradition dekonstruiert durch Cage’schen Indeterminismus. Cardew interessiert sich zusehends für den sozialen Aspekt des Musikmachens – gibt es ein kollektives Komponieren? Kann man in Echtzeit komponieren? Wie repräsentieren Klänge soziale Verhaltensweisen? Lassen sich diese direkt in Musik ausdrücken? Zwischen 1963 und 1967 arbeitet er an einer gigantischen Komposition – das 193 Seiten starke »Treatise«. Selbst Laien können das Stück lesen, denn es ist eine graphische Komposition, die sich vom herkömmlichen Notenbild emanzipiert hat (auch wenn es auf mannigfaltige Weise zitiert wird). Eindeutige Spielanweisungen: keine. Reihenfolge: beliebig. Besetzung: variabel. Jeder Solist, jedes Ensemble, das dieses Stück spielen will, muss es sich kreativ aneignen, muss zum Ko-Komponisten werden und sich ebenfalls der Frage nach dem sozialen Gehalt des Klanges stellen.

 

Ein junger Jazz-Gitarrist, studierter Grafiker und Pop-Art-Künstler, arbeitet mit Cardew die Partitur aus: Es ist Keith Rowe, der Cardew mit seinem Improvisationsensemble AMM bekanntmacht. Sie werden »Treatise« aufführen, im Gegenzug wird Cardew Mitglied der Gruppe, gibt sein Komponistendasein auf, wird Improvisator. Und von da an überschlagen sich die Ereignisse: 1969 gründet er mit AMM und einigen anderen rebellischen Komoponistenkollegen das Scratch Orchestra. Ein Arbeiter-Studenten-Freak-Ensemble, das binnen kürzester Zeit eine Vielzahl kollektiver Kompositionen verwirklicht – Musik für Nicht-Musiker, von einer Komplexität und einem Formenreichtum, der jeden »alteuropäischen« Komponisten zutiefst beschämt.

 

Was Cardew ins Leben gerufen hat, sprengt er auch wieder. 1972 zerfällt das Scratch Orchestra. Cardew wird zu einem glühenden Anhänger Maos, er sieht in der Zombierepublik Albanien das Morgenrot der neuen Weltordnung aufglühen, er verdammt die Avantgarde, das Dissonante, die Moderne. Er schreibt jetzt Arbeiteragitationslieder (vor denen die Arbeiter freilich davon laufen). Je naiver, desto besser. Auf Demonstrationen trällert er seine Songs. Wie gesagt: Weil es ihm so bitterernst ist, wirkt es so parodistisch, so postmodern (unfreiwillig).

 

Zu Recht hat das Netzwerk »On – Neue Musik Köln« »Treatise« in seinen Kanon der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Denn das Stück führt über den amerikanischen Zen-Fluxus (John Cage, auch Morton Feldman) und den europäischen Post-Serialismus (Stockhausen et al.), der letztlich die Rolle des großen Komponisten nie in Frage stellte, hinaus. Streng genommen markiert es einen Bruch in diesem Kanon und gehört zur Geschichte der Gegenkultur wie der Pariser Mai und – tatsächlich – Woodstock. Musikimmanent ist »Treatise« ganz sicher paradigmatisch für die Generation jüngerer Improvisatoren, die sich nicht mehr am Free Jazz orientieren, das Ensemble )H(iatus, das »Treatise« in Köln aufführen wird, steht dafür exemplarisch.

 

Und es bleibt ein Rätsel. Man steht da und staunt – einfach ein Rätsel: Wieso der Komponist Cornelius Cardew, der so offene, freie, dabei auch so stille, skrupelhafte Stücke entwarf – es gibt in der »Treatise«-Partitur deutliche Hinweise, dass er sich nicht auf Klangklotzerei und Radaumusik abzielt –, wieso dieser Genosse, den nicht nur seine Freunde als überaus freundlichen, höflichen und gewissenhaften Menschen beschreiben, sich für die autoritärste, national bornierteste Form des Sozialismus entschied.