Kalk bleibt nazifrei: Gegendemonstranten bei der Pro Köln-Demo am 19. November, Foto: Arbeiterfotografie

»Wir haben auch hier tickende Zeitbomben«

Drei Anschläge in NRW, zwei davon in Köln, gehen auf das Konto der Zwickauer Zelle. Der Rechtsextremismus-Experte Alexander Häusler über die militante Neonazi-Szene in NRW

StadtRevue: Herr Häusler, laut WDR-Berichten gab es Verbindungen der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene, maßgeblich von Axel Reitz, Kopf der »Freien Kräfte Köln«, zur Zwickauer Zelle. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sollen an einem Nazi-Treffen in Erftstadt vor zwei Jahren teilgenommen haben. Hat Sie das überrascht?

 

Alexander Häusler: Zunächst muss gesagt werden, dass die Aussage eines Aussteigers die bislang einzige Quelle für die Teilnahme der Zwickauer Mörder an besagtem Treffen ist. Daraus können noch keine gesicherten Erkenntnisse abgeleitet werden. Prinzipiell ist es nichts Neues, dass die militante Neonazi-Szene in NRW seit Jahren Kontakte in andere Bundesländer pflegt, auch in das Umfeld des ehemaligen »Thüringer Heimatschutzes« und der NSU.

 

Wie ist die Szene organisiert?

 

Die Neonazi-Szene ist informell in sogenannten Kameradschaften organisiert, sie agiert flexibel und klandestin. Zwar finden sich unter dem Dach der NPD viele Kameradschaftskader wieder, die meisten sind jedoch nicht in Parteien organisiert, sondern in losen Strukturen oder festen Netzwerken, die sich dann in Richtung Terrorgruppen entwickeln und auch überregional agieren. Bundesweit gibt es zwischen 200 und 300 militante neonazistische Kameradschaften, die häufig ihre Namen wechseln und schwer fassbar sind. Man kann sagen, dass Deutschland von einem braunen Netz gewaltorientierter Neonazi-Kameradschaften überzogen ist.

 

»Wir haben seit kurzem einen Brandherd in Wuppertal«

 

Hätte sich demnach eine solche Rechtsterroristengruppe auch in NRW bilden können?

 

Wir haben in NRW Personen, die tickende Zeitbomben sind. Die in der Szene rumlaufen und ihre Anerkennung dadurch kriegen, dass sie massiv gewalttätig auftreten. Sie werden als Heroen angesehen, weil sie nicht durch Gerichtsurteile abgeschreckt werden. So etwa ein jüngst wieder inhaftierter Neonazi, der vor sechs Jahren einen Punk in Dortmund erstochen hat. Nach seiner Haftentlassung war er wieder bei Schlägereien und Angriffen dabei. Ähnliche bedrohliche Beispiele gibt es auch in der »Kameradschaft Aachener Land«.

 

Können Sie weitere Brandherde in NRW ausmachen?

 

Im Aachener Raum mit Stolberg, Düren, Eschweiler und auch in Dortmund gibt es Gegenden, wo seit Jahrzehnten die Nazis sagen: Das ist unser Territorium und alle anderen haben hier nichts zu suchen. Und die, die sich hier gegen Rechts engagieren, die terrorisieren wir, bis sie weg sind. Die »Kameradschaft Aachener Land« ist eng verknüpft mit den »Freien Kräften Köln«, wo Neonazi-Führungspersonen auftreten und überregional als Kontakt dienen. Wir haben seit kurzem einen Brandherd in Wuppertal, wo eine junge Kameradschaft »Nationale Sozialisten Wuppertal« äußerst aggressiv auftritt. Diese Szene ist über die »Aktionsgruppe Rheinland« vernetzt mit anderen neonazistischen Kameradschaften.

 

»NRW weist bundesweit den höchsten Anteil an rassistisch und rechtsextrem motivierten Gewalttaten auf«

 

Man hat bislang in NRW das Problem Rechtsextremismus von sich geschoben und auf den Osten gezeigt. Die Verfassungsschutzberichte wirken verharmlosend, obwohl die Daten erschreckend sind.

 

In absoluten Zahlen weist NRW bundesweit den höchsten Anteil an rassistisch und rechtsextrem motivierten Gewalttaten auf. Wir sind zudem mit einer qualitativen Steigerung des Gewaltpotenzials konfrontiert, dies untermauern unsere Untersuchungen zum Neo?nazismus. Laut Aussteiger-Interviews existieren in der Szene Überlegungen, Gewalt anzuwenden, die bis zu Terrortaten reicht. Man muss sich vor Augen führen, dass wir in NRW jeden zweiten Tag eine rechtsextrem oder rassistisch motivierte Tat verzeichnen. Und wir haben eine sehr große Dunkelziffer, weil unter anderem die behördlichen Definitionen rechter Gewalt zu kurz greifen. Ich erinnere an Michael Berger, der drei Polizeibeamte und dann sich selbst erschossen hat. Danach hat die »Kameradschaft Dortmund« Flugblätter verteilt mit der Aufschrift »3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns«. Absurderweise wurde diese Straftat nicht als rechtsextrem gelistet.

 

Hat sich also die landläufige Meinung, dass die Polizei auf dem rechten Auge blind ist, bewahrheitet?

 

Zugespitzt gesagt: Jedes brennende Auto wird als linksextreme Gewalt aufgenommen, bei rechten Übergriffen muss man erst »Heil Hitler« schreien. Die Vorstellung von Terrorismus ist immer noch geprägt vom linken Terrorismus, von Leuten, die versuchen, ihre Taten intelligenter zu begründen. Die Vorstellung von Terror von rechts, begleitet von einem niedrigen intellektuellen Niveau, ohne Begründungszusammenhang, ist in den Köpfen noch nicht drin. Weil diese Gefahr an der Schnittstelle vom aggressiven, stumpfen Neonazi hin zum braunen Terror nicht ernst genommen wurde. Jüngstes Beispiel ist die »Kameradschaft Aachener Land«, die auf ihrer Internetstartseite mehrere Tage lang Paulchen Panther abgebildet hatte, daneben stand »Zwickau Rulez«. Wenn man das angeklickt hat, kam das »Döner-Killer«-Lied von »Gigi & Die braunen Stadtmusikanten«. Damit demonstrieren die: Uns passiert ja eh nichts.

 

»Leute, die sich gegen Neonazis engagieren, werden im Alltag oft alleingelassen«

 

Am 8. November haben sich Neonazis aus NRW zu einem Flashmob in Düsseldorf-Kaiserswerth getroffen und SA-Lieder gesungen.

 

Bei diesem Aufmarsch versuchten rund 60 Neonazis in der Nacht zum Jahrestag der »Reichspogromnacht« eine neue Form von neonazistischer Inszenierung einzuführen. Unter dem Motto »Die Demokraten bringen uns den Volkstod« marschierten sie unter dem Transparent der »Aktionsgruppe Rheinland« mit Fackeln und weißen Masken durch die Straßen und feuerten Leuchtspurmunition ab. Dieser Nazi-Spuk wurde unter dem Motto »Die Unsterblichen« in ähnlicher Form schon in anderen Bundesländern praktiziert, erstmals 2006 in Südbrandenburg. Die Strategie: Die Aktivisten okkupieren nach einer Art von Agitprop kulturelle Muster, die aus der alternativen, linken Szene stammen und neonazistisch umgedeutet werden. Die heutigen Nazis kleiden sich modern und zitieren Subkulturen. Von der Polizei sind sie teilweise nicht identifizierbar, ihre Aktionen werden meist nicht sanktioniert. Das hat ihnen Auftrieb gegeben.

 

Der Innenminister setzt in der Bekämpfung des rechten Terrors unter anderem auf eine zentrale Datei für rechtsextreme Gewalttäter. Was halten Sie davon?

 

Wenn der Politik nichts anderes einfällt als Gesetzesverschärfungen und die Einschränkung von Datenschutz, ist das der falsche Weg. Das ist politischer Populismus. Wenn wir untersuchen, wie sich Neonazismus festsetzt, läuft das immer nach dem gleichen Schema: Rechtsextreme okkupieren einen Jugendclub oder öffentlichen Raum, legen ein aggressives Territorialverhalten an den Tag und bedrohen Andersdenkende, Obdachlose, Migranten oder Homosexuelle. Die zentrale Maßgabe, dies zu unterbinden, ist von Anfang an zu sagen: Stopp, so etwas hat hier keinen Platz! Jenseits medialer Empörung werden die Leute, die sich gegen Neonazis engagieren, im Alltag oft alleingelassen, gar als Störenfriede dargestellt. Wer bei der Antifa ist oder Demos organisiert, steht schnell unter Generalverdacht. Das A und O ist, diese aktive demokratische Zivilgesellschaft zu stärken. Und dafür bedarf es einer Änderung im Bewusstsein der Gesellschaft. Da geht es eben nicht um schärfere Gesetze, Repressalien, V-Männer.