Eine Art Märchen

Der Junge mit dem Fahrrad zeigt die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne erstaunlich optimis­tisch. Eine Begegnung über den Dächern von Cannes

Seraing zählt zu den unglamourösesten Flecken Westeuropas. International bekannt ist der 60.000-Einwohner-Ort in direkter Nachbarschaft zu Lüttich vor allem, weil Jean-Pierre und Luc Dardenne fast alle ihre Filme hier gedreht haben. In »Rosetta«, »Der Sohn« oder »L’enfant« zeigen sie die ehemalige Stahlstadt als triste Aneinanderreihung von Parkplätzen, Tankstellen und seelenlosen Shopping-Centern, die ihren gescheiterten Figuren keinen Schutz bieten.

 

Man kann sich also kaum einen Ort vorstellen, der weniger zum belgischen Brüderpaar passt, als eine schicke Bar auf dem Dach eines Fünf-Sterne-Hotels in Cannes. Doch ausgerechnet diesen Ort hat ihre Presseagentur für Interviews nach der Weltpremiere ihres aktuellen Films »Der Junge mit dem Fahrrad« im Wettbewerb der Filmfestspiele ausgesucht. Die beiden wettergegerbten, grauhaarigen Männer wirken erwartungsgemäß wie Fremdkörper zwischen Topfpalmen, weiß livrierten Kellnern und Frauen mit sektkelchhohen Absätzen. Das ändert nichts an ihrem völlig entspannten und selbstbewussten Auftreten. Kein Wunder: Sie müssen niemandem etwas beweisen. In Cannes gewannen sie die Goldene Palme für »Rosetta« (1999) und »L’enfant« (2005), ebenfalls zweimal wurden hier ihre Hauptdarsteller ausgezeichnet. Ihr vorletzter Film »Le silence de Lorna« bekam den Drehbuchpreis. Ein Erfolg, der sich allerdings nicht an den Kinokassen wiederholen ließ. In Deutschland haben die Dramen der Belgier nur wenige Kinogänger gesehen. Ihr beharrlicher Blick auf die äußersten Ränder der Gesellschaft, ihr unbemäntelter Realismus, der dem Zuschauer selten ein Happy End gönnt, schreckt offenbar ab.

 

Das könnte sich mit »Der Junge mit dem Fahrrad« ändern. Nicht nur spielt mit Cécile de France (»Hereafter«) erstmals ein zumindest im frankophonen Raum bekannter Star eine Hauptrolle in einem ihrer Filme. Sie haben auch erstmals im Sommer gedreht, was Seraing und Umgebung zwar nicht zur Schönheit erblühen lässt, aber doch in auffälligem Kontrast zur Tristheit ihrer früheren Filme steht. Und: Ihr achter Spielfilm ist ihr optimis­tischster, sie selber bezeichnen ihn vorsichtig als »eine Art Märchen«.

 

Vorwärtsgetrieben wird die Handlung vom zwölfjährigen Cyril (Thomas Doret), den sein Vater in einem Kinderheim abgegeben hat. Nach einem Streit bricht der Junge aus und macht sich auf die Suche nach seinem Vater. Die Heimmitarbeiter wissen jedoch, wo sie ihn suchen müssen. Als sie ihn finden, klammert sich Cyril verzweifelt an das Bein einer zufällig anwesenden Friseuse. Der Zufall meint es gut mit ihm: Samantha (Cécile de France) nimmt den Jungen zunächst bei sich auf. Doch die unbändige Energie und ziellose Wut des Jungen stellt ihre Nächstenliebe immer wieder auf eine harte Probe.

 

»In der postindustriellen Zeit mit ihrem zügellosen Individualismus wollten wir von den Auswirkungen einer Handlung erzählen, die keine versteckten Motive hat«, erklärt Jean-Pierre Dardenne im Interview. »Es geht um einen Akt der Güte und Großzügigkeit, der nur in sich selbst begründet ist.« Das ist in der Tat neu im Werk der Brüder. Bislang trieb in ihren Filmen gewöhnlich der tägliche Kampf ums Geld Figuren und Handlungen an. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen waren auf ihre ökonomische Verwertbarkeit hin ausgerichtet. Geradezu programmatisch zeigt die erste Einstellung ihres letzen Films »Le silence de Lorna« eine Großaufnahme von Geldscheinen. Erst der massive Druck durch Schuldgefühle führt dazu, dass die Protagonisten ihr Verhalten ändern – in »L’enfant« etwa bringt der Verkauf des eigenen Babys einen jungen Vater zum Umdenken.

 

»Der Junge mit dem Fahrrad« liefert keine Erklärung für Samanthas Handlung, jegliche Psychologisierung wird vermieden. »In unseren anderen Filmen waren die Motive der Figuren immer klar«, fährt Jean-Pierre Dardenne fort. »Oft waren sie hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Sehnsüchten. Hier reagiert jemand ganz einfach auf den Hilfeschrei des Jungen. Wir wollten sehen, ob wir so eine Liebesgeschichte erzählen können, ohne sentimental zu werden.«

 

Auch wenn die Dardennes erstmals in einigen wenigen Szenen Filmmusik zulassen, bleibt keine Zeit für Sentimentalitäten. Dafür ist ihr Kino zu handlungs­orientiert. Die unbändige Energie von Cyril wird in jeder Einstellung vermittelt. Er rennt, radelt, rauft, ist immer in Bewegung. »In unserer Gesellschaft verschwinden Körper immer mehr«, erklärt Luc Dardenne. »Wir kommunizieren über virtuelle Netzwerke, selbst bei der Arbeit wird unser Körper nicht mehr gebraucht. Die physische Präsenz hat ihre Bedeutung verloren, außer wenn wir nur körperlich exis­tieren, etwa im Fitnessstudio. Wir wollten im Film Situationen vermeiden, in denen Körper unwichtig sind. Die Geschichte kommt nicht zufällig ins Laufen, als Cyril Samanthas Bein fest umklammert.«

 

Eine Pressebetreuerin unterbricht das Gespräch, die nächste Gruppe Journalisten wartet. Ein paar Tage später bekommen die Dardennes in Cannes den Gro­ßen Preis der Jury verliehen. Damit hat jeder ihrer letzten fünf Filme mindestens einen Hauptpreis auf dem prestigereichsten Filmfestival der Welt gewonnen. So erfolgreich war hier seit Beginn der Vergabe der Goldenen Palme niemand, weder Fellini noch Bergman, weder Coppola noch Kurosawa – erst recht nicht Godard oder Truffaut. Die besseren Franzosen kommen eben doch aus Belgien.