Foto: Manfred Wegener

Fernweh im Veedel

Christian Meier-Oehlke ist bei seinem Rundgang durch die Karnevalsszene auf die Schwierigkeiten des musikalischen ­Nachwuchses gestoßen

Jedes Jahr im Winter beginnt in der karnevalistischen Szene Kölns die hektische Suche nach dem Kleeblatt. Besser: die nach dem sechsten Blatt. Denn natürlich nennt der Kölner, der ja immer sein Extrawürstchen braten muss, bereits ein fünfblättriges Kleeblatt sein eigen. Die Suche nach dem sechsten geschieht immer nach diesem Muster: Zunächst wird die Viel­fältigkeit der kölschen Musikszene bejubelt, um alsbald zu lamentieren, dass es Newcomer sehr schwer hätten, sich gegen die Größen im Karneval durchzusetzen. Um dann, in einer dritten Eskalationsstufe, erleichtert auszurufen, dass es die Gruppe XY in diesem Jahr aber gewiss schaffen werde, die Phalanx der etablierten Combos zu durchbrechen.

 

Im kölschen Kleeblatt werden die bereits vorhandenen Blätter von den Gruppen Bläck Fööss, Höhner, Paveier, De Räuber, und neuerdings Brings repräsentiert. Diese Formationen sorgen Session um Session verlässlich für Hits. Da diese Musiker aber nicht jünger werden, schwingt immer auch die Sorge mit, das Kleeblatt könne über kurz oder lang verwelken. Frischer Wind muss her, der Nach­wuchs soll auf die karnevalistische Bühne, so wie das vor rund einem Jahrzehnt den Brüdern Brings eher zufällig gelungen war. Brings stehen dabei für das Rüpelhafte, Unehrbare, Laute, Unangepasste, für etwas, das vor nicht so langer Zeit so gar niemand mehr mit dem Karneval in Verbindung gebracht hätte. Mit Brings kam die Rebellion, der Skandal in die Sitzungs­säle. Wer erinnert sich nicht gerne an die Aufregung, die es seitens des konservativeren Jecken um Nummern wie »Poppe, Kaate, Danze« oder »Hay! Hay! Hay!« gab?! Wie immer man zu den Mannen um Peter Brings stehen mag, die Band, der bereits ein zäher Karriereausklang als maximal mittelprächtiges Kölschrockderivat drohte, hat den Geist des Aufbruchs in die stimmungsvoll-verstaubten Säle gebracht. Und den Rock hatte man gleich mit im Gepäck.

 

Nachahmer und Nachfolger ließen nicht lange auf sich warten: 2009 landete etwa die Formation Hanak mit »Haifischzahn« einen Achtungserfolg. Eine biedere Rocknummer, die mit Karnevalsmusik nicht mal mehr die übliche Thematik gemein hat. In diesem Jahr schicken sich die Jungs von Kasalla an, mit »Pirate« die rheinischen Gemüter in Wallung zu bringen. Trotz der schwierigen Refrainzeile »Pirate, wild un frei/Dreimol Kölle Ahoi«, die man aber nach einigen Kölsch so mitsingen wird, als hätte es weder ein Ajuja noch ein Alaaf jemals gegeben. »Kasalla« hieß auch ein früher Longplayer von Brings, der unserer Newcomer nennt sich »Et jitt Kasalla«, was soviel meint wie: Es gibt Ärger, Krawall. Die Piratisierung des Fasteleers hatte im Zuge des Fluchs der Karibik mit den notorischen Höhnern begonnen, die mit »Festpiraten« (»Mir kumme met alleman vorbei«) ihren musikalischen Beutezug fortsetzten. Der Freibeuter und der, zumindest während der fünften Jahres­zeit, stets nach Freiheit, nach Bruch mit allen Konventionen, Bruch auch mit der Enge des sonst so viel besungenen Veedels strebende Kölner — diese Verbindung passt.

 

Wer sich auf die Suche nach Versionen des dem »Festpiraten«-Songs zugrunde liegenden Traditionals machen möchte, wird beispielsweise auf einer alten Jimmy-Smith-Platte fündig. Das Plagiat und die Hits des Fasteleers sind immer schon eine enge Beziehung eingegangen. Denn eine originäre kölsche Musik gibt es nicht, das ist lokalpatriotisches Problem und die Kreativität herausfordernde Chance zugleich. Die Barden der Stadt  haben sich seit jeher in der weiten Welt bedient, das war in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts nicht anders als heute: Zugegriffen wurde und wird bei Walzer, Polka, Marsch, Tango, Bouzouki, irischem Trinklied, russischer Folklore, US-amerikanischen Musikern, Flamenco-Pop und zunehmend auch beim Eurotrash (aktuelles unrühmliches Beispiel sind Brings, die die Belastbarkeit des kölschen Wesens mit »Dat is geil« auf die härteste Probe seit dem Höhnerschen »Sansibar« stellen). Die kölsche Seele, sie ist im heißen Süden genauso daheim wie im kalten Russland, solange es nur genug zu lachen und insbesondere zu trinken gibt. Ergo ist auch der Karnevalssong nicht klar umrissen, seine Geschichte eine einzige Auflistung an Covern, Plagiaten (»Superjeilezick« = »Those were the days« = ­Russische Volksweise), Ideen­transfer, kurz: eine musikethnografi­sche Historie des Diebstahls! Prominentes Bei­spiel der perfekten Fusionierung sind die kölschen Beatles, die Bläck Fööss, die es wie keine zweite Band nach ihnen verstanden haben, aus Pop, Blues, Rock, Disco, Pol­ka, Marsch, Ballade und sogar Skiffle (»Putsch­blos«) ihren Stil zu formen.

 

Was aber macht ein Kar­ne­valslied genau aus, was muss man beachten, was braucht man, um einen Me­ga­­hit zu landen? Einen Bezug zu Köln und dem Rheinland, Mundart­kom­pe­tenz, tendenzielle Schun­kel­taug­lichkeit, ein gerüttelt Maß an Gefühl,  Melancholie und Witz und eine ein­gängige Melodie, gerne etwas im kollektiven Gedächtnis Haftendes, vorzugsweise aus Irland (Bier) oder Russland (Melancholie). Das ist die Theorie! In der Praxis sieht das natürlich anders aus: Wo findet man denn die Bands und Fußgruppen, die sich zeitgleich zur Ausdifferenzierung auch des alternativen Karnevals verzweifelt gesucht und erleichtert gefunden haben? Es ist erstaunlich, wie wenig sich musikalisch in den letzten 15 Jahren getan hat und dass nur verschwindend wenige Bands jenseits des erwähnten Kleeblatts länger auf sich aufmerksam machen konnten. Viele Gruppen, die mal ein, zwei Hitansätze auf die närrischen Bühnen gebracht hatten, verschwanden genauso schnell wieder, nachdem sie Playback-Medleys in den WDR-Arkaden zum Besten gaben. Wie der Prinz der Herzen von 1993, Wicky Junggeburth (»Einmol Prinz zo sin«), den man einfach gern haben muss, der sich aber seit dem Ende seiner Regentschaft eher als WDR4-Moderator denn als Hitlieferant einen Namen macht. Auch Schmackes, das Projekt von Sängerin und Texterin Annette Fuchs, galt als hoffnungsvolle Nachwuchskapelle. Radio Köln zeigte sich angetan und spendierte flück die Auszeichnung »Newcomer 2006«, die EMI nahm die Band für ihr Tochterlabel Rhingtön unter Vertrag. Zwei CD-Singles später war schon wieder Ernüchterung eingekehrt im Hause Fuchs, zur Zeit ziehen Schmackes, runderneuert, fröhlich und unermüdlich durch Kölner Kneipen, geben Konzerte in der Kahnstation im Blücherpark oder treten bei den legendären Humba-Partys auf. Die wiederum sind fester Bestandteil einer zunehmend munte­re­ren alternativen Karnevalsszene, die sich um Ordensdekorationen, Honoratioren und den Sitzungskarneval noch nie einen feuchten Kehricht geschert haben.

 

Prominenteste Vertreterin des rheini­schen Sangestriebes ist zweifelsohne die »Loss mer singe«-Sause. Einige Wochen vor Eröffnung des Straßenkarnevals startet die Mitsing­tour durch Kneipen und Brauhäuser. Eine Tour, über die ein Spötter in Anlehnung an den britischen Kicker Gary Lineker äußerte: »›Loss mer singe‹ ist ein simples Vergnügen: 222 Erwachsene singen und trinken neunzig Minuten lang und am Ende gewinnt Brings!« Die neuesten Hits der Session werden inbrünstig mitgeschmettert, damit man für den Kneipeneinsatz während der richtig tollen Tagen ge­rüs­tet ist. Schaut man sich den Liedzet­tel ge­nauer an, kann es einem Angst und Bange werden, ob der Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten und Versatzstücken über Kölle, die Kölschen, deren Hätz und besonderen Bezug zu ihrer Heimat. Ja, ja. In diesem Jahr werden die Jungs von Kasalla das Rennen machen, wer das traditionelle Tschingderassabumm bevorzugt, stimmt für Marc Metzger alias Dä Blötschkopp und sein formidables »Wenn et Fernwieh röf« an. Und da, trotz aller millionenfach besungenen Heimatverbundenheit, muss sich der Kölner nicht lange bitten lassen. Denn anders als es eine Hausbrauerei einst propagierte, verreist der Kölner äußerst gerne. Vorzugsweise nach Spanien. Und schreibt genauso gerne Lieder darüber. Aber das ist eine andere Geschichte.