Düsseldorf muss brennen

Nurkan Erpulat, Deutschlands postmigrantischer Regiestar, will einfach nur Stücke inszenieren

Der Schauspieler Moritz Grove ist in seinem Element: Er gibt den Probenarsch. Grove krittelt herum, will eine Szene an der Bühnenrampe verlegen und nervt seine Kollegen so lange, bis sie ihn rauswerfen. Die Probe ist allerdings keine Probe, sondern die Eingangsszene in Nurkan Erpulats Inszenierung von Kafkas »Das Schloss« für die Ruhrtriennale vergangenen Herbst.

 

Eine Szene, die vorführt, wie Außenseiter »gemacht« werden und wie Spiel und Realität sich überlagern. Denn kurz danach kehrt Grove in der Rolle als Protagonist K. zurück, der zwei Stunden vergeblich Zugang zur geheimnisvollen Dorfgesellschaft aus Kafkas Roman sucht.
Die Szene könnte man symbolisch auf Erpulats eigene Situation als schwuler türkischer Regis­seur, sozusagen als doppelt marginalisierter Mann, in Deutschland beziehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nurkan Erpulat ist derzeit einer der meist begehrten Regisseure. Außer bei der Ruhrtriennale inszeniert er am Deutschen Theater Berlin, am Wiener Volkstheater, und erarbeitet seit dieser Spielzeit als Hausregisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus. Eine Karriere, die in nur fünf Jahren steil nach oben führte, denn Erpulat wurde bislang unter der Marke »postmigrantisches Theater« gebucht – was so absurd wie symptomatisch für Deutschland ist.

 


»Wir leben in einer Gesellschaft, die uns ständig Rollen zuweist und die man übernimmt oder denen man etwas entgegensetzt«, sagt Nurkan Erpulat im Gespräch und bezieht das nicht nur auf die Handlung in »Das Schloss«, sondern auch auf seine eigene Biografie. Der 1974 geborene Regisseur ist in der Türkei aufgewachsen und entstammt dem Bildungsbürgertum. Sein Vater war Beamter bei der Armee, seine Schwester arbeitet als Diplomatin. Er selbst hat in Izmir eine Schauspielausbildung absolviert und kam erst 1999 nach Berlin, wo er Regie an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert hat. Als erster türkischstämmiger Student überhaupt. Mit der deutschen postmigrantischen Gesellschaft hat Erpulat also kaum etwas zu tun: »Ich bin klassisch ausgebildeter Schauspieler, ich kenne eher Shakespeare als irgendwelche Neuköllner Geschichten.«

 


Spätestens mit »Verrücktes Blut«, das 2010 am Berliner Ballhaus Naunynstraße und bei der Ruhrtriennale herauskam, wurde er trotzdem zu Deutschlands postmigrantischem Theater­super­star. Im Zentrum des Stücks steht eine schmächtige Lehrerin, die mit der Pistole im Anschlag ihre Migrantenschüler zwingt, Schillers »Räuber« nachzuspielen. Ästhetische Erziehung im Actionformat. Patzige Kopftuchmädchen und Jungs mit testosteronbefeuertem Mundwerk lassen die Projektionsmaschine auf Hochtouren laufen und führen den Zuschauern ihre eigenen Vorurteile vor. Am Ende entpuppt sich die Lehrerin als türkischstämmige Frau – unterhaltsamer konnte man auf die Sarrazin-Debatte und den Hype um das Schlagwort »Kulturelle Bildung« nicht reagieren.

 


So banal es klingt, so folgerichtig ist es: »Mich interessiert zu 95 Prozent nur der Schauspieler«, sagt Erpulat. Selbst der Raum – der in seinen Inszenierungen meist sparsam möbliert ist –, werde erst durch die Schauspieler geschaffen. Erpulat macht die Darsteller zum Prisma, in denen sich Selbst- und Fremdwahrnehmung immer wieder brechen. Nicht verwunderlich, dass im Gespräch neben Autoren wie Jean Genet und Oscar Wilde auch Bertolt Brecht auftaucht. Die Desillusion durch epische Theaterstrategien, das Spiel mit Sehgewohnheiten ist Erpulat wichtig. Doch nicht als trockene Theorie, sondern als Darstellungstechnik, aus der die Komik in seinen Inszenierung hervorgeht: »Ich sehe Humor als Überlebenstrategie«, sagt Erpulat.

 


Das beweist auch sein bereits 2008 entstandenes Dokumentarstück »Jenseits – bist du schwul oder bist du Türke« über das Leben von fünf schwulen türkischstämmigen Männern in Deutschland: Da berichtet ein Kurde, wie er je nach Community mal als Kurde, mal als Schwuler, mal als Türke, mal als Macho verunglimpft und von Deutschen zum Migrantenexperten abgestempelt wird. Ein anderer erzählt von der absurden Ausmusterung bei der Armee: »Man muss Fotos beim Generalstab vorlegen, die beweisen, dass man sich in den Arsch ficken lässt.« Erzählungen über das Coming Out, die erste große Liebe, über Glaube, Familienträume und über deutsche Freunde wechseln mit Spielszenen und Songeinlagen. Wie »Verrücktes Blut« ist auch »Jenseits« hochkomisch, aber auch von analytischer Schärfe. Hier versteht sich Erpulat, der schon in der Türkei in schwul-lesbischen Verbänden engagiert war, dezidiert als politischer Regisseur.

 


Auf die Zuschreibung »postmigrantischer Theaterdarling« reagiert Nurkan Erpulat inzwischen genervt. Auch deshalb wechselte er nach Düsseldorf, wo er als Hausregisseur nicht mehr auf Stückangebote engstirniger Intendanten angewiesen ist: Zum Einstand inszenierte er gerade die Farce »Herr Kolpert« von David Gieselmann, in der sich zwei Ökolifestyle-Paare lustvoll gegen­seitig zu massakrieren versuchen. Es fließen viel Blut und sonstige Säfte. Der Abend schnurrt ziemlich routiniert als Boulevard­komödie ab. Am Schluss sprengt Erpulat in einem Video ganz Düsseldorf in die Luft – ein bisschen Zündeln an der gutbürgerlichen Landeshauptstadtgesellschaft und am feinsinnigen deutschen Stadttheater kann nicht schaden.