Die Zwillingstürme von Eupen: die Nikolauskirche von 1722, Foto: Johannes J. Arens

Die Mini-Metropole

Eupen hat zwar bloß 18.000 Einwohner, aber dennoch ein eigenes Parlament. Hier sitzt die Regierung der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

Wir haben uns zwischen Fritten und Wiener Schnitzel umgeschaut.

Nur wenige Menschen sind an diesem lauen Frühlingsmorgen in der Eupener Oberstadt unterwegs. Es ist kaum vorstellbar, dass hier etwas mal nicht gemütlich sein könnte. Die Läden tragen Namen wie »Sandras Cafe« oder »Mode Jasmin«, die Gaststätten heißen »Ratskeller« und haben Zusätze wie »die gemütliche Kneipe«. Der »Treffpunkt« informiert mit einem großen Schild über die wöchentlichen »Live-Konferenzen« der 1. und 2. Bundesliga.

 

Vor der Marktschenke stehen drei in Adidas gekleidete Jugendliche und rauchen, hinter ihnen blinkt eine blau-rote LED-Anzeige mit der Aufschrift »open«. Der Saigon Imbiss verkauft Fritten mit sechzehn verschiedenen kalten und warmen Soßen, und die Karte des Restaurants »Alte Herrlichkeit« bietet mit Steak frites und Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat handfeste deutsch-belgische Küche.

 

Gemütlich, historisch, kulinarisch rustikal

 

Der Menüaushang informiert außerdem darüber, dass der letzte deutsche Kaiser eine Vorliebe für Kartoffelsuppe hegte. Diese eher bizarre Reminiszenz mag dem Baujahr des Gründerzeithauses aus gelbem und rotem Backstein, mit seinen historisierenden Erkern, Gauben und Türmchen geschuldet sein. Vielleicht auch noch der Tatsache, dass die Flucht Wilhelms II. 1918 zunächst im rund 25 Kilometer entfernten Spa endete. Aber auch wenn die Menschen hier in manchen Dingen deutscher sein mögen als im benachbarten Aachen — Eupen ist eine belgische Stadt.

 

Und Eupen hat eine bewegte Geschichte: 1231 wurde das liebenswert verschlafene Städtchen erstmals urkundlich erwähnt. Bis zur Schlacht von Worringen gehörte Eupen zum Herzogtum Limburg, dann zu Brabant, dann zu Burgund. Es folgten Jahre unter den österreichischen, den spanischen und wieder den österreichischen Habsburgern.

 

Mit Napoleon kamen die französischen Truppen, dann die Preußen und schließlich, als Folge des Versailler Vertrags, wurden die Kreise Eupen und Malmedy dem Königreich Belgien zugeschlagen. Ein letztes Mal wurde die Stadt im Mai 1940 von den Nazis besetzt und etwa vier Jahre später wieder befreit.

 

Die Erfolgsgeschichte als Best-Practice-Beispiel der Selbstverwaltung einer europäischen Minderheit, als Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft, begann in den 60er Jahren. Der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen drohte abermals zu eskalieren, und das Königreich Belgien wurde in drei Sprachgemeinschaften aufgeteilt. Aus dem fast vergessenen schmalen Streifen im Westen Belgiens mit seinen gegenwärtig rund 75.000 Einwohnern wurde die Deutschsprachige Gemeinschaft, kurz DG.

 

»Metzgerei — Boucherie« steht in orangefarbenen Lettern über einem Fleischerladen. Rund 90 Prozent der knapp 19.000 Einwohner Eupens geben nach wie vor Deutsch als Muttersprache an. Sanft und melodisch sprechen die Leute hier und heißen Marie-José oder Mathieu. Man sagt es neigiert, wenn es schneit, und der Kfz-Mechaniker heißt Garagist. Die Nähe zum frankophonen Teil der Wallonie ist offensichtlich.

 

Provinzieller Grenzland-Charme

 

Gleich hinter Eupen, irgendwo an der Ausfallstraße nach Welkenraedt, die mit ihren riesigen Tankstellen, Autohäusern und Möbel-Outlets wie ein amerikanischer Highway aussieht, verläuft die Sprachgrenze. Die CD-Abteilung eines noch deutschsprachigen Supermarktes bietet Rosenstolz und Hansi Hinterseer neben Yves Montand und Mylène Farmer. Musik ist so ein Bereich, in dem sich die DG deutlich vom Rest des Königreichs unterscheidet.

 

Zum 32. Mal wird in diesem Juli das jährliche Tirolerfest in Eupen veranstaltet und auch Auftritte wie die der »Wacky Feet — First East Belgian Country Dancers« im Besucherzentrum der am Stadtrand liegenden Wesertalsperre würde man wohl eher in der mecklenburgischen Provinz erwarten.

 

Doch die von maasländischen Barockfassaden in Blau- und Backstein geprägte Oberstadt lässt erahnen, dass Eupen sich nicht immer an der Peripherie befunden hat. Der Weberbrunnen erinnert an ein längst vergangenes Kapitel der Geschichte. Im ausgehenden 17. Jahrhundert nahm hier die erste Feintuchmanufaktur ihren Betrieb auf. Eupen machte sich einen Namen als Textilstandort und schaffte mit Tuchfabrikation und Metallverarbeitung den Aufstieg. Knapp 300 Jahre später ist von der Industrie nicht mehr viel übrig, aber zumindest der Einzelhandel scheint hier noch nicht dem Tode geweiht.

 

Gechäfte-Bummeln statt Filialen-Shopping

 

Kaum eine Ladenkette findet sich in der Innenstadt, dafür gleich vier Bäckereien in einem Umkreis von gerade mal 500 Metern. Kein »Backshop«, kein »Mr. Baker« weit und breit. Eine Dame im weißen Kittel arrangiert frisch gebackene Kirschfläden im Schaufenster. Der örtliche Bioladen hinter einer Fassade aus glänzenden schwarzen Fliesen offeriert frische Bio-Ingwer-Wurzel, 100 Gramm für 1,50 Euro. Die Auslage mit den gemalten Schildern erinnert ein wenig an Kooperativen der 80er Jahre. Um die Ecke ein noch deutscher anmutendes Reformhaus, im Schaufenster wird für ein Artischocken-Mariendistel-Extrakt und die üblichen Abnehmpräparate geworben —  »Mein Rezept für eine gute Figur«.

 

Die Straße hinunter, vor einem der drei Pralinengeschäfte, unterhalten sich zwei ältere Damen. »Arlette war auch da«, sagt die eine, während ihr Kurzhaardackel interessiert am Nylon-Einkaufsbeutel der Bekannten schnüffelt, »kennen Sie Arlette?« »Eine nette Frau«, sagt die andere und zieht die Tasche ein bisschen höher. »Sehr nett«, bestätigt die Hundehalterin, »trotzdem, dass sie korpulent ist« und verabschiedet sich Richtung Werthplatz.

 

Regionale Ruhe in Politik und Wirtschaft

 

An die Befreiung durch amerikanische Truppen im September 1944 erinnert hier das »Monument in Memory of the American First Infantry Division«. Wasser plätschert betulich eine von der Stadt und Veteranen gestiftete bronzene Säule hinab. Blickfang am America Square ist allerdings die benachbarte Friedenskirche. Sie wird gerade saniert, das Portal ist eingerüstet und der obere Teil des neogotischen Turms wird von orangefarbenen Plastikgurten zusammengehalten. Das wirkt fast wie ein Symbol für den politischen Zustand Belgiens, wo es zwar nach 540 Tagen endlich wieder eine Regierung gibt, wo aber nach wie vor wenig innerer Zusammenhalt besteht.

 

Karl Heinz Lambertz, langjähriger sozialistischer Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, bekam wohl nicht zufällig den Auftrag von König Albert, im Konflikt zwischen Flamen und Wallonen zu vermitteln. Die Regierungsgeschäfte führt er mit seinem Kabinett schräg gegenüber der Friedenskirche in einer Residenz, die von Johann Josef Couven, dem Großmeister des Aachen-Lütticher Barocks, erbaut wurde.

 

Nicht nur der Regierungschef ist hier standesgemäß untergebracht. Auch die »Euregio Maas-Rhein«, die deutsch-belgisch-niederländische Kooperation für Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Kultur, hat hinter der historischen Blausteinfassade ihren Sitz. Nach Deutschland gibt es schon längst wieder gute Kontakte. Die Eupener gehen in Aachen ins Theater, die Aachener kommen gerne in die Eupener Supermärkte. Die Linie 14 zwischen den beiden Städten, die gerade mal 18 Kilometer von einander entfernt liegen, ist eine der ersten grenzüberschreitenden Buslinien nach dem Krieg.

 

Das neueste Beispiel für den unaufgeregten europäischen Alltag ist eine Kooperation der besonderen Art: Seit vor einigen Jahren der riesige Aachener Schlachthof den Betrieb einstellte, werden deutsche und ostbelgische Metzger-Azubis und -Meisterschüler gemeinsam im Eupener Zentrum für Aus- und Weiterbildung geschult. Gelebtes Europa funktioniert am besten im Kleinen — ganz gemütlich.