Rock’n’Roll will never die: Marianne Rumpsmüller, © Michael Hagedorn

»Blonde Augen Himmelsstern«

Barbara Wachendorff erarbeitet ein Theaterstück mit Demenzkranken

Marianne Rumpsmüller trägt einen roten Pullover zu schwarzer Hose und ist voller Elan. Nachdem sie den Schauspieler Tim Mackenbrock angeflirtet hat (»Blonde Augen Himmelsstern / küssen und poussieren gern«), geht sie mit ihm auf die mit Klebeband markierte Bühne. »Ich kenne doch das Theater, da habe ich keine Angst«, sagt sie forsch. Sie soll mit ihrem Partner gemeinsam dessen Schuhe suchen und dann mit ihm tanzen.

 

Doch Marianne Rumpsmüller hat ziemlich klare Vorstellungen: Erstens sei der Teppichboden zum Rock’n’Roll-Tanzen völlig ungeeignet und einen Mann auffordern, das käme ja nun gar nicht in Frage. Als dann aber Peter Kraus’ »Tutti frutti«-Version ertönt, legt sie mit knapp 90 Jahren einen Rock’n’Roll samt Drehungen aufs nicht vorhandene Parkett, dass selbst Tim Mackenbrock nur noch staunt.

 

Lebensgeschichten als Drehbuch

 

Marianne Rumpsmüller ist ein Irrwisch und eine von insgesamt fünf demenzkranken Teilnehmern an Barbara Wachendorffs Theaterprojekt »Anderland«, das im Rahmen des Festivals »Sommerblut« Premiere hat. Die 51-jährige Regisseurin arbeitet seit Jahren im Bereich des Biographietheaters, in dessen Mittelpunkt nicht fiktionale Texte, sondern die Lebensgeschichten der Akteure stehen.

 

Akteure, die häufig aus tabuisierten gesellschaftlichen Bereichen kommen — wie krebskranke Kinder, geistig Behinderte oder eben Demenzkranke. 2005 hat Barbara Wachendorff erstmals am Schlosstheater Moers bei dem Stück »Ich muss gucken, ob ich da bin« mit Demenzkranken zusammengearbeitet und wurde damit für den deutschen Theaterpreis »Der Faust« nominiert. In ihrem neuen Projekt treffen vier professionelle Schauspieler auf fünf Menschen mit Demenz, die das Team um Barbara Wachendorff mit Hilfe von Anzeigen gefunden hat.

 

Zum Beispiel Helga Born, die im CMS-Pflegewohnstift in Porz wohnt: Sie ist eine Frau von legerer Eleganz, hat lackierte Fingernägel und verfügt über einen reichen Wortschatz. Helga Born strahlt Lebensfreude aus, lacht viel, ihre Antworten im Gespräch jedoch scheinen wild aus dem Setzkasten der Vernunft zusammengeschüttelt. Im Gespräch erwähnt sie immer wieder ihre beiden Kinder, spricht über die Einrichtung von Räumen und singt gerne: Biographische Restbestände, die — ob wahr oder nicht — tief verankert sind.

 

Eine Woche später bei den Proben im Krankenhaus St. Hildegardis baut Barbara Wachendorff aus diesen Hinweisen eine Szene, in der Frau Born den Schauspielern Tim Mackenbrock und Bettina Muckenhaupt eine Wohnung mit Klavier vermietet.

 

Es sind solche in der Lebensgeschichte verankerten Impulse, auf die dementiell erkrankte Menschen reagieren, auch wenn sie die Theaterszene als solche völlig vergessen haben — die Schauspieler fungieren dabei als Leitplanken des Abends. »Ich baue ein Haus auf den Säulen der professionellen Schauspieler, alles andere in den Räumen werden die Menschen mit Demenz beitragen«, sagt Barbara Wachendorff.

 

Tabuthema Demenz: Angst vor Verlusterfahrung?

 

Das Theaterprojekt »Anderland« berührt ein Tabu. Derzeit leben etwa 1,2 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland, bis 2050 wird sich die Zahl verdoppeln. Demente werden meist isoliert, ob sie nun bei Angehörigen oder in Heimen untergebracht sind.

 

Das hat seinen Grund: Demenzkranke lösen tief sitzende Ängste aus in einer Gesellschaft, die auf Vernunft, Autonomie und Identität gegründet ist. Sie machen den Verlust der Strukturen des Selbst schmerzhaft bewusst, sagt die Philosophin Angelika Pillen, die im Rahmenprogramm von Sommerblut einen Vortrag halten wird. Doch muss Demenz eigentlich immer nur als Verlust-Erfahrung beschrieben werden?

 

Das ist eine Frage, die sich auch Barbara Wachendorff stellt. Viele Zuschauer würden erwarten, dass Menschen mit Demenz verzweifelt sind, dass sie stinken, dass sie alles vergessen haben. Die Regisseurin möchte dagegen einen überraschenden Blick auf Menschen mit Demenz werfen und ihre emotionale Unmittelbarkeit zeigen.

 

Darüber hinaus sollen die Schauspieler die Fremdbestimmtheit in der Heimsituation sowie im Umgang mit Pflegern oder die Medikamentierung thematisieren. Dass Marianne Rumpsmüller bei der Probe abwehrend auf einen Arztkittel reagiert, hat allerdings nichts mit ihrer Heimsituation zu tun: Sie erinnert sich an den Tod ihres Mannes und an das Krankenhaus, in dem er untergebracht war.

 

Der Versuch, eine Szene nachzuspielen, bei der Marianne Rumpsmüller ihre Mitpatienten imitiert hat, klappt leider nicht: Sie erinnert sich einfach nicht mehr daran. Dafür drängt es sie zum Ende der Probe nochmals auf die Tanzfläche: Klar, dass es wieder ein Rock’n’Roll ist. Und wie ihre Zukunftspläne sind, darüber lässt sie niemanden im Unklaren: »Ich habe vor, wieder ans Theater zu gehen« — was so falsch nicht ist, zumindest für die nächsten sechs Wochen.