Zielgerichteter Kontrollverlust

Mit »Ali« verweigert sich Michael Mann sowohl den Konventionen des Boxerfilms als auch der Filmbiografie.

Überwältigung

Von Kritikern muss sich Michael Mann (»Heat«) gelegentlich vorhalten lassen, sein Perfektionismus sei so kalt und hermetisch, dass seine Filme unzugänglich seien. Umso aufregender also, wenn ausgerechnet ein solcher Control-Freak in »Ali« vom eigenen Sujet förmlich überwältigt scheint. Von Linda Jones’ Interpretation des Soul-Standards »For Your Precious Love« ist der Musikfan Mann jedenfalls so angetan, dass er seine Cutter selbst dann noch – wider alle Erzählökonomie – für viele, lange Sekunden auf einen nachgestellten Live-Auftritt der 1972 verstorbenen Sängerin schneiden lässt, als Protagonist Muhammad Ali (Will Smith) den Nachtclub längst verlassen hat und mit seiner zukünftigen (ersten) Ehefrau im Bett gelandet ist.

Kein gewöhnlicher Biopic

»Ali« beginnt mit dem ersten Titelgewinn 1964 gegen Sonny Liston und gipfelt im erfolgreichen Comeback gegen George Foreman im »Rumble in the Jungle« zehn Jahre darauf. Damit greift Mann zwar jenen nahe liegenden Handlungsbogen auf, der bereits Tom Gries’ hüftsteifem B-Film »The Greatest« zu Grunde lag, in dem »Ali sich vor einem Vierteljahrhundert selbst spielte<<, die gängigen Erwartungen an ein Biopic werden indes unentwegt unterlaufen.
Ein Grund sind die Bewegungen einiger der zahlreichen Nebenfiguren vom Rande des Geschehens in dessen Zentrum oder umgekehrt. Alis politischem Mentor Malcolm X (Mario van Peebles) kommt zunächst das Gewicht einer zweiten Hauptfigur zu, aber die Rolle endet unweigerlich abrupt mit seiner Ermordung. Mehrere Großaufnahmen lassen zunächst erahnen, dass Angelo Dundee (Ron Silver) ein strenges Auge auf seinen Schützling wirft, doch wenn der Meistertrainer zwei Filmstunden später vom Champ während einer Pressekonferenz demonstrativ in Schutz genommen wird, fällt plötzlich auf, wie sehr die Figur derweil in den Hintergrund geraten ist. Die Darstellung von Alis ersten beiden Ehen beschränkt sich wiederum jeweils auf das Kennenlernen und die Krise vor der Trennung, während seine Bekanntschaft mit dem Sportreporter Howard Cosell (Jon Voight) mit den Jahren enger wird, doch immer distanziert bleibt.

Scheinbar zügellose Erzählstruktur

Zu der irritierenden Fluktuation des Personals passt eine Inszenierung, die Orientierung stiftende Master Shots beharrlich vorenthält und stattdessen Großaufnahmen den Vorzug gibt. Diese tragen in Kombination mit häufigen Schärfeverlagerungen zum Eindruck unmittelbarer Involviertheit bei, ohne jemals einen geordneten Überblick zu bieten. Heißt das aber auch, dass Mann gelegentlich selbst die Übersicht verloren hat, dass er von seinem schwergewichtigen Sujet also förmlich erschlagen worden ist?
In der schier atemberaubenden Anfangssequenz wird ersichtlich, dass die Auslassungen in der scheinbar zügellosen Erzählstruktur Methode haben. In einer Montage, die alleine Argument genug wäre, um Manns Anspruch auf den Titel des derzeit besten amerikanischen Filmemachers zu untermauern, wechseln Eindrücke vom Training vor dem ersten WM-Kampf und Bilder eines Live-Auftrittes von Sam Cooke einander ab. Geradezu beiläufig, ohne dass sein Protagonist auch nur ein Wort sprechen müsste, verleiht Mann in der gleichen Sequenz Alis Beitritt zu den Black Muslims, der mit der Ablehnung des »Sklaven-Namens« Cassius Clay einher geht, seine Evidenz: Eine beim Jogging erduldete alltägliche Provokation eines Polizisten; eine Rückblende auf den jungen Clay, dessen Blick beim Gang in den hinteren, für Farbige bestimmten Busteil auf dem Zeitungsfoto eines Lynchopfers haften bleibt; und schließlich ein weiterer kindlicher Blick über die Schulter des Vaters, der als Maler blonder, blauäugiger Jesus-Gestalten sein Geld verdient, führen den Boxer in einen Vortrag von Malcolm X.

Mit Kunstfertigkeit spiegelt Mann die Wirren der 60er Jahre wider

Während in dieser langen Sequenz ein (von David Elliott gesungenes) Cooke-Medley die Tonspur dominiert, kehrt auch die Kamera immer wieder zu dem Sänger zurück, dessen anfängliche Prominenz in »Ali« – wie die der Soul Musik im Allgemeinen – eine Analogie anbietet: Wie beim Soul sind nämlich auch bei diesem Film die vermeintliche Überwältigung, der scheinbare Kontrollverlust tatsächlich Produkt einer Kunstfertigkeit. Dieser Film muss wohl gelegentlich unübersichtlich und ziellos erscheinen, um uns vor Augen zu führen, wie inmitten der Wirren der 60er Jahre die – aus der Distanz betrachtet krude wirkende – Ideologie der Black Muslims zum Orientierungspunkt schwarzer Identitätspolitik werden konnte. Auch wenn Mann kein gutes Haar an der Nation of Islam lässt, wird Alis anhaltende Loyalität zu dieser Organisation doch dialektisch als Bedingung für dessen allmähliche Autonomie erkennbar.
Als Ali nach dem Vorbild der »Nation« mit Malcolm X bricht, scheint er noch äußeren Eingebungen zu folgen. Er richtet einen formelhaften Verratsvorwurf an den Freund, der vorher – wie auswendig gelernt – bereits im Off zu hören gewesen war. In einer typischen Michael-Mann-Szene trifft Ali dann in einem stummen Moment alleine, scheinbar seinem Instinkt folgend, die Entscheidung sich während des Vietnamkrieges trotz Haftandrohung der Einberufung zu widersetzen. Beim Comeback gegen Foreman vernimmt Ali dann nur noch seine eigene innere Stimme – wobei sich zugleich die irrationale, masochistische Komponente zeigt, die der heroisierten maskulinen Autonomie bei Mann anhaftet: Ein minutenlanges Schlaggewitter George Foremans ist der Preis dafür, dass eine Verfremdung der Tonspur schließlich alle äußeren Einflüsterungen undefinierbar werden lässt.

Ali (dto) USA 01, R: Michael Mann, D: Will Smith, Jamie Foxx, John Voight, 159 Min. Start: 15.8.