Foto: Manfred Wegener

»Ich baue auf nichts auf«

Die Komponistin Carola Bauckholt über Geräusche, Mut und offene Räume

Wer mit Geräuschen arbeitet — mit Klängen aus dem Alltag, der Natur, der Industrie, erzeugt von Geräten, die erst mal nichts mit einem Musikinstrument zu tun haben —, muss sich unter Garantie der inquisitorischen Frage stellen, was denn das noch mit Musik zu tun habe?! Geräuschmusik steht häufig unter dem Verdacht, auf bloße Effekte oder Schockmomente abzuzielen.

 

Wer die Stücke von Carola Bauckholt hört, entdeckt, wie in ihrer Musik die Reichhaltigkeit von Geräuschen regelrecht aufblüht. Bauckholt bringt die Geräusche in ein dynamisches System, in dem sie zu leben anfangen, sie pulsieren, generieren Rhythmen, komplexe Patterns. Eigentlich ist ihre Musik Geräuschdurchdringung: Bauckholt bleibt nicht bei einmal gefundenen Geräuschen stehen, sondern übersetzt sie in die Ausdrucksweise nicht zuletzt auch konventioneller Instrumente.

 

Die 53-Jährige lebt und arbeitet seit 1978 in Köln. Sie ging zunächst durch die bunte, surreale Welt des Komponisten und Theateranarchisten Mauricio Kagel. 1985 gründete sie ihren eigenen Verlag, den Thürmchen Verlag (benannt nach der Südstadt-Straße, in der sie damals wohnte), 1991 war sie an der Gründung des Thürmchen Ensembles beteiligt, längst eine der profiliertesten Gruppen der großen Kölner Neue-Musik-Szene. Zahlreiche Stipendien und Preise haben Carola Bauckholt bis heute ein freies Arbeiten ermöglicht. Ihre Stücke — von Kammermusik bis zum ausladenden Musiktheater — werden weltweit aufgeführt. Allein dieses Jahr gab es bereits drei Uraufführungen.

 

StadtRevue: Sie schreiben immer wieder fürs Musiktheater. Vor zwei Jahren ist Ihre große Geräuschoper »Hellhörig« erstmals aufgeführt worden. Ich habe das Stück noch nicht live gesehen. Ich kenne nur die CD — und damit eigentlich nur die Hälfte des Werkes, es fehlt alles Visuelle.

 

Carola Bauckholt: Aber es geht bei »Hellhörig« um den inneren Film, gar nicht so sehr um das äußere Bühnengeschehen. Natürlich ist es spannend zu sehen, wie die Klänge produziert werden, welche Materialien zum Einsatz kommen. Aber das eigentlich Theatralische liegt im Klang selbst. Es geht in diesem Stück um Geräusche, Geräusche rufen automatisch eine Assoziation hervor, die sind bildlich vermittelt, und diese Bilder laufen bei Ihnen im Kopf ab. Sie brauchen streng genommen nicht noch eine zusätzliche Aktion auf der Bühne. 

 

 

Die Materialien, die bei Ihnen zum Einsatz kommen, erfordern durchaus einen anstrengenden, aufwändigen Umgang. In »Hellhörig« blasen Staubsauger Orgelpfeifen an, eine Zinkwanne wird über den Boden gezogen, Steine prasseln, Schlafsäcke werden bearbeitet … Wenn es Ihnen aber um den inneren Film geht, warum sparen Sie sich nicht diesen Aufwand und setzen auf digitale Klangerzeugung, mit der sich diese Geräusche quasi auf Knopfdruck erzeugen lassen?

 

Ich bin um das elektronische Studio immer herumgeschlichen, habe dann auch mal darin gearbeitet. Aber man muss die Geräte wahnsinnig gut kennen, um einen Klang hervorzubringen, der vielfältig ist. Man begibt sich in die Logik der Geräte, ich begebe mich aber lieber in die Gesetze der Materialien. Mein Eindruck ist einfach, dass deren Klang reicher ist. Rhythmen und Klangspektren sind so amorph, dass man eine Menge an Spannung, an Unvorhergesehenem herausstreichen würde, wenn man, wie das bei digitaler Musik häufig der Fall ist, sehr viel vorab festlegt.

 

Gerade das Zusammentreffen von Musiker und Material birgt einen Moment des Unkontrollierbaren, den gibt es so nicht in synthetischer Musik. Die ist reiner, sauberer. Natürlich — man kann mit O-Tönen arbeiten, also mit einem »unreinen« Ausgangsmaterial. Ich arbeite auch viel mit O-Tönen, sie stehen häufig am Anfang meiner Arbeit. Aber mich interessiert dann, wie ich sie übersetzen kann in die Sprache der Musiker: Wie kann ich ein Geräusch auf ein Instrument übertragen — am liebsten auf ein konventionelles. Das fordert natürlich die Musikalität der Interpreten besonders heraus, und was bei dieser Konfrontation entsteht, macht mich neugierig. Da gibt es wahnsinnig viel zu entdecken. Rein digitale Musik befriedigt meine Neugier nicht.

 

 

Schreiben Sie für bestimmte Musiker?

 

Es gibt Musiker, mit denen ich sehr gerne zusammenarbeite, etwa mit dem Schlagquartett Köln. Wir kennen uns schon lange. Wenn ich ihnen sage, ich möchte gerne einen Zug, der in einen Tunnel hinein fährt und wieder herauskommt, ich möchte diesen Klang, wie er sich entwickelt, verändert, dann arbeiten die daran, setzen das für sich um, und das ist meistens sehr inspirierend und es bringt mich auf eine weitere Idee. Das ist die schönste Form der Zusammenarbeit. Aber ich kriege auch Aufträge für Orchester, die ich nicht kenne, da muss ich sozusagen blind komponieren, dann muss es abgesicherter sein, ich kann da nicht so extrem werden. »Hellhörig« konnte ich nur schreiben, weil ich ganz dicht mit den Musikern zusammengearbeitet habe.

 

 

Das Stück war also noch nicht fertig, als Sie mit den Proben begonnen haben?

 

Es war ein Prozess. Ich hatte schon etwas geschrieben, das haben wir geprobt, ich habe das aufgenommen, die Komposition weiter verfeinert, dann haben wir wieder geprobt. Am Anfang einer Komposition spekuliere ich: Was könnte interessant klingen? Die ersten Ergebnisse der Musiker forme ich dann weiter. Ich arbeite mich sehr stark am Material ab, und das geht nur in der Auseinandersetzung während der Proben mit den Musikern. Dabei entstehen viele Ideen, die man ganz konkret weiterentwickeln und ausarbeiten kann. Diese Art arbeiten ist für mich furchtbarer als das rein Geistige, Spekulative. Aber ich habe nicht immer die Möglichkeit zur direkten Zusammenarbeit, dann geht es nur spekulativ.

 

 

Wenn Sie zu schreiben anfangen, gehen Sie immer von einem bestimmten Ausgangspunkt aus?

 

Meistens sitze ich da und habe erst mal keine Ahnung. Dann entscheide ich mich, ein Fitzelchen Idee zu ergreifen und daran weiterzuarbeiten. Das kann etwa die Besetzung des Ensembles sein. Das kann aber auch etwas sein, was ich erlebt habe. Es geht darum, das zu finden, was mich wirklich interessiert. Habe ich das gefunden, dann spiele ich damit, verpflanze es in einen anderen Zusammenhang, so komme ich in einen Pfad. Der kann natürlich auch in einer Sackgasse enden. Aber trotzdem — immer der Nase nach, damit fahre ich eigentlich am besten. 

 

Und irgendwann kommt der Moment, von dem an sich das Stück selber schreibt?…

 

Leider nicht. Komponieren ist ein langwieriger Prozess, ein Ringen. Aber die Mühen lohnen sich, wenn es an die Realisierung geht. Vorher, beim Schreiben, denke ich häufig, das kann doch nichts geben! Aber dann höre ich — es geht! Es wird lebendig! 

 

 

Wie wichtig ist Ihnen beim Schreiben die Musiktradition?

 

Ich baue auf nichts auf. Natürlich bin ich auch von bestimmter Musik und Komponisten beeinflusst und reflektiere das nicht immer. Ich würde sagen, dass ich jemand bin, die von Außen auf die Sachen guckt, in neue Räume stoßen will. Das wollen vielleicht alle Komponisten, gut, aber bei mir läuft es nicht über die Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte. Wenn es bei mir einen historischen Einfluss gibt, dann ist es der von Cage — nicht unmittelbar, mehr was seine Art angeht, mit allen Traditionen zu brechen, sich ganz bewusst außerhalb von der musikalischen Entwicklung zu stellen. 

 

 

Sie haben 1978 ihr Studium bei Mauricio Kagel aufgenommen, aber mit der künstlerischen Arbeit haben Sie schon zwei Jahre früher begonnen — in Krefeld beim Theater am Marienplatz (TAM).

 

Das ist eine freie Gruppe, die sich unter der Leitung von Pit Therre ursprünglich aus einem Kirchenchor herausentwickelt hatte und bei der die Unterscheidung zwischen Laien und Nicht-so-sehr-Laien keine Rolle spielt hat. Das TAM macht übrigens bis heute weiter. Wir haben Stücke geprobt, die waren so radikal, dass es für die Profis wie die Nicht-Profis die gleiche Erfahrung war, da waren die Abgrenzungen aufgehoben. Das war entscheidend für meine weitere musikalische Entwicklung. Kagel habe ich im TAM kennengelernt, Cage auch, wir haben Jandl aufgeführt, Beckett. Es gab keine großen Unterscheidungen zwischen Theater, Literatur und Musik. Jeder machte alles — Licht, Requisiten bauen, die Auswahl der Stücke treffen, auf der Bühne stehen und alles wieder aufräumen. Es war ein sehr glückliches Zusammentreffen für mich.

 

 

War es für Sie der logisch nächste Schritt, bei Kagel zu studieren?

 

Nein, ich wollte eigentlich im TAM weitermachen. Nur — da verdient man kein Geld. Ich musste ja sozusagen einen Beruf erlernen. Bei Kagel war ich zu Beginn nur Gasthörerin, ich hatte keine formale Berechtigung. Er war eine ungeheuer inspirierende Kraft. Ich bin später erst so richtig ins Kompositionsstudium reingerutscht, habe dann auch meine erste Stücke geschrieben — das war schon gegen Ende des Studiums —, und die sind dann auch im TAM aufgeführt worden. Die Arbeiten im TAM waren eigentlich immer Gemeinschaftsarbeiten, ich habe auch gar nicht im üblichen Notationssystem geschrieben, wir mussten da andere Wege finden. Die Arbeit mit Musikern, denen ich als Komponistin gegenübertrete, kam erst nach dem Ende meines Studiums mit dem Thürmchen Ensemble.

 

 

In den 60er und 70er Jahren haben sehr viele Komponisten ihr angestammtes Terrain verlassen und ganz offensiv den Kontakt zu Nichtmusikern gesucht, zu Laien oder einfach nur aufgeschlossenen Hörern. Ich denke da an Christian Wolff und seine sozialen Experimente, an das Scratch Orchestra um Cornelius Cardew, das sich an Arbeiter richtete, ohne populistisch zu sein, oder auch an Dieter Schnebel mit »Mo-No«, einem Buch, das als »Musik für einen Leser« konzipiert war.

 

Ja, das war eine Bewegung raus aus der Akademie. Nicht unbedingt raus auf die Straße — aber rein in neue Räume. Das war sehr wichtig.

 

 

Und dann gab es einen Backlash — es wurde, gerade in der Neuen Musik, wieder konservativer, konventioneller, »virtuoser«.

 

Das habe ich sehr bewusst miterlebt, das setzte schon Anfang der 80er Jahre ein. Selbst bei Kagel spürte man das. Ich habe noch erlebt, wie seine Klasse ganz konsequent geöffnet war — da waren auch Bildende Künstler, die erst mal nichts mit Musik zu tun hatten. Kagel hat immer gesagt, diese konservative Wende lag am System der Hochschule selbst. Aber ich denke, da ist noch mehr passiert: Kagel hatte irgendwann angefangen, Einzelunterricht zu geben, Hausaufgaben zu verteilen. Das gab es vorher alles nicht, auf einmal wurde es strenger, und er ist dazu von niemandem gezwungen worden. Ich habe noch eine sehr offene Phase mit ihm erlebt. Wir haben produziert und geredet, individuellen Unterricht mit Leistungsnachweisen gab es nicht, wir haben nichts »gelernt«. Das war befreiend. Heute ist die Auslese unter Kompositionsstudenten äußerst streng, die Gehörbildung muss perfekt sein, das Analysewissen muss perfekt sein… in ganz Deutschland gibt es keinen Raum mehr, für Leute, die nicht diesem Raster entsprechen und gerade deswegen etwas zu sagen haben. Am Ende reproduziert sich nur das akademische System selbst. Wäre ich zehn, fünfzehn Jahre jünger gewesen, ich wäre niemals Komponistin geworden, ich wäre nie in den Betrieb reingekommen.

 

 

Bei vielen Komponisten, die vor dreißig, vierzig Jahren so engagiert waren, auch politisch, hat sich eine Melancholie breitgemacht. Ich habe das in einem Gespräch mit Johannes Frisch erlebt, der den wilden 70ern hinterher getrauert hat, aber sich gleichzeitig auch nicht mehr positiv auf diese Zeit beziehen wollte.

 


Es ist eher Resignation. Oder mehr noch: eine Frage des Muts. Kagel hatte angefangen, traditionellere Stück zu schreiben, von Dieter Schnebel gab es auf einmal Messen, geistliche Musik! Niemand hat ihnen gesagt, jetzt hört mal auf mit euren Experimenten — sie selber haben das so entschieden. Das entsetzt mich. Ich kriege öfters zu hören, ich würde ja nur die Arbeit der 60er Jahre fortsetzen, ich würde diese Tradition beackern, das sei meine Schublade. Aber das soll konservativ sein? »Hellhörig« ist durchaus kontrovers aufgenommen worden: Es gibt kein Libretto, ich erzähle keine »Geschichte«. Das erwartet man jetzt wieder. Ich habe aber immer daran festgehalten, mich von diesen Konventionen zu befreien, den Leuten eben keine Geschichten vorzuschreiben. Ich wollte beweisen, dass diese Arbeitsweise weiter von Bedeutung ist. Ich wollte diesen Versuch — also ganz ohne Libretto zu arbeiten — durchziehen. »Hellhörig« wird bis heute aufgeführt, weltweit. Es ist ein Erfolg geworden, das hat mich bestätigt. Ich will mir kein generelles Urteil erlauben, aber es gibt Anzeichen, dass die Zeiten wieder offener, wagemutiger werden.