Wiederaneignung des Staunens

Marion Wöhrle, Maciej Sledziecki und Michal Libera entdecken die

elektronische Musik aus dem Polen der 50er und 60er Jahre neu

Für die elektroni­sche Musik waren die Nachkriegsjahre ein goldenes Zeitalter. Der Wirtschaftsboom schwemmte Geld in die öffentlichen Kassen westlicher Staaten, die sich damit im ideologischen Wettrüsten des Kalten Krieges als Mäzen experimenteller Kunstformen etablierten.

 

In Paris collagierte Pierre Henry im Studio des französischen Rundfunks eine komplette Komposition aus einem Seufzer und dem Knarren einer Tür, in Köln schraubte Karl-Heinz Stockhausen für den WDR einen Lautsprecher auf einen Drehtisch und brachte so den Surroundsound in die Welt. »Das war eine aufregende  Zeit«, meint Marion Wöhrle. »Noch heute wundert man sich, was denn damals für spannende Musik im WDR lief.«

 

Studio(s) für elektronische Musik

 

Zusammen mit Maciej Sledziecki, dem polnischen Musikautoren Michal Libera und wechselnden Musikern macht sie sich seit einiger Zeit daran, diese Pionierperiode wieder auferstehen zu  lassen. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur das kanonisierte Kölner Studio für elektronische Musik des WDR, das mittlerweile in einem Ossendorfer Keller archiviert ist, sondern auch ein Pendant aus dem Ostblock: das »studio muzyki elektronicznej« (Studio für elektronische Musik) des Polnischen Rundfunks.

 

Gegründet wurde es 1957, um Soundtracks für Animationsfilme zu produzieren. Es war die Zeit des politischen Tauwetters, die regierenden polnischen Kommunisten hatten sich soeben vom Stalinismus gelöst. Mit dem Studio ist eine ganze Generation von Komponisten verbunden, allen voran Krzysztof Penderecki, der hier den Soundtrack für »Das Saragossa-Manuskript« aufnahm.

 

Gearbeitet wurde mit den Mitteln der Zeit: die Sounds entstanden durch die Manipulation von Tonband-Aufnahmen und wurden in einem unkonventionellen Partitursystem notiert. Bekannt ist dieser Teil der Geschichte elektro­akustischer Musik kaum, es existieren nur wenige Aufnahmen. Ein Großteil des Archivs ging in der Wendezeit vor zwanzig Jahren verloren. »In den 90ern hat der Besitzer des Studios gewechselt«, erzählt Maciej Sledziecki. »Das Studio wurde aufgelöst und die Angestellten haben die Partituren quasi als Klopapier verramscht.«

 

Seit einigen Jahren arbeitet Michal Libera die Geschichte dieses Studios auf. Gemeinsam mit ihm und anderen polnischen Musikern sind Wöhrle und Sledziecki Ende Juni auf Tour in NRW. Zwei Tage lang studieren sie im Düsseldorfer Institut für Musik und Medien die Stücke gemeinsam ein und passen sie ihren eigenen Instrumenten an. Die beiden polnischen Musiker Krzysztof Topolski und Piotr Kurek verzichten bei ihrer Performance auf moderne Technik, nähern sich den Kompositionen per altem Sampler und Drumkit.

 

Annäherungen an Hardware

 

Ein Anachronismus mit Methode – denn der Prozess der Wiederentdeckung soll auch eine Wiederaneignung des Staunens sein. Das gilt für die jungen Musiker ebenso wie für Eugeniusz Rudnik, der als Studioingenieur den Großteil der Aufnahmen des Warschauer Studios betreute. In Warschau wohnte er einer frühen Performance alter Stücke des Studios durch Sledziecki und Wöhrle bei und wunderte sich, wie man den Sound seines alten Arbeitsplatzes mit anderen Mitteln imitieren kann.

 

So wird der Blick in den historischen Rückspiegel zur Verfremdung zeitgenössischer Selbst­verständlichkeiten. »Vieles, was man sich heute anhört, klingt total alt«, meint Wöhrle. »Aber für uns sind alte Töne eigentlich neu, weil man sie in einen anderen Kontext stellt und elektronische Sounds mit Gitarrenfeedback, das damals keiner verwendet hat, mixt.«

 

Auf diese Weise verschieben sich die Perspektiven: Ein klassisches Stück wie »Fabula Rasa« (1964) des Kölner Komponisten Johannes Fritsch, das Wöhrle und Sledjiecky im ersten Teil der »Polish Experimental Studio«-Tour noch in Warschau aufgeführt haben, wird so zu einem Stück, das mit anderen Mitteln ein ähnliches Ergebnis wie ihre gemeinsamen Stücke aus elektronischen Drones und manipulierten Gitarrenasounds erzielt.

 

»Es ist nicht mehr eindeutig, was eigentlich Avantgarde ist«

 

Da liegt es nahe, für den Auftritt in Köln nicht einfach nur den Pionieren nachzueifern, sondern Veteranen und Newcomer der neueren rheinischen Elektronikszene zusammenzubringen. Jaki Liebezeit, einst Schlagzeuger von Can – vielleicht die offensichtlichste Verbindung der Stockhausen-Schule zur Popmusik –, trifft auf den Kölner Elektroniker Markus Schmickler, dessen Projekte zwischen strenger Elektroakustik und verzückendem Elektronikshoegaze oszillieren.

 

Der Düsseldorfer Komponist Simon Hummel teilt mit dem Kölner Studio für elektronische Musik das Interesse an selbstgebauten Instrumenten. Seine »Musikmaschine« ist eine Orgel, die von drei Personen per Blasebalg bedient werden muss und auf der er ein etwa eineinhalbminütiges Werk des belgischen Komponisten Karel Goeyvaerts aufführen wird, das dieser 1955 während seiner Zeit im WDR-Studio geschrieben hat.

 

Krzysztof Penderecki, der Godfather der polnischen Nachkriegsavantgarde, hat neulich in einem Interview zu Protokoll gegeben, die größte Hürde für eine zeitgenössische Avantgarde sei es, dass seine Generation eigentlich schon (fast) alles ausprobiert habe. »Es ist heute nicht mehr so eindeutig, was eigentlich Avantgarde ist«, meint Sledziecki. »Durch die­se teilweise auch recht exzentrischen Figuren ist halt einiges aufgebrochen worden, aber vieles davon kann man auch gar nicht so richtig hören. Also macht man halt was anderes damit.«