Dichter ohne Dünkel

Kafka geht ins Kino: Die Bonner Stummfilmtage beschäftigen sich dieses Jahr unter anderem mit der Liebe des Schriftstellers zum bewegten Bild und zeigen Filme, die er gesehen hat

Franz Kafkas Kinobegeisterung ist kein Geheimnis: Wiederholt erwähnt er in Briefen und Tagebucheinträgen Lichtspielhausbesuche zwischen Prag, Verona, Berlin und Paris. Er beschreibt Erwartungen an kommende Film­erlebnisse und Erinnerungen an gerade erst oder vor Jahren schon Gesehenes. Kafka ging ins Kino, und das gerne.

 

Als Kafka begann, sich für Film zu interessieren, war das in erster Linie ein plebejischer Zeitvertreib, mit dem Gebildete oder sich entsprechend Dünkende nichts zu schaffen haben wollten – so zumindest die landläufige Meinung. Kafka und das Kino schienen daher für die Interpreten seiner Werke und Nachzeichner seiner Wege lange quer zueinander zu stehen.

 

Der älteste Film, von dem sich nachweisen lässt, dass er ihn gesehen hat, ist eine Produktion der Firma Pathé aus dem Jahr 1908 namens »En bordée«, der jüngste Ya‘ackov Ben-Dovs Bericht über den Alltag zionistischer Siedler im unter britischen Mandat stehenden Paläs­tina mit dem Titel »Shivat Tzion« aus dem Jahr 1921.

 

Von den rund zwei Dutzend Werken, von denen man recht sicher weiß, dass Kafka sie gesehen hat, stammt der größte Teil aus den Jahren 1911-13: einer Wendezeit des Kinos, begann sich doch damals auch das Bürgertum für die neue Kunst zu interessieren. Kafka beschäftigte sich auch mit einem Schlüsselfilm jener Ära, Max Macks »Der Andere« (1913), dessen Doppelgängergeschichte sich bestens mit seinem Schreiben in Verbindung bringen lässt.

 

Kafka und das Kino: ein weites Feld, an dessen Teilvermessung sich das diesjährige Symposium der Internationalen Stummfilmtage wagt. Am 19. und 20. August werden außerdem drei Werke im Festivalprogramm zu sehen sein, die Kafka kannte: Paul Garbagnis »Nick Winter und der Raub der Mona Lisa« (1911), August Bloms »Die weiße Sklavin II« (1911) sowie Marshall Neilans »Daddy Langbein« (1919).

 

Erwartungsgemäß gehören die beiden bekanntesten Kafka-Kinoforscher – der Schauspieler, Regisseur und Autor Hanns Zischler und der Literaturwissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin Peter-André Alt – zu den Vortragenden auf dem Symposium: Ersterer arbeitete in seiner ebenso akribisch betriebenen wie flanierenden Recherche »Kafka geht ins Kino« (Buch 1996, Film 2002) die Fakten auf, Letzterer baute von dessen Erkenntnissen ausgehend seine Thesen zum Zusammenhang zwischen Kafkas Schreiben und dem frühen Kino auf (»Kafka und der Film – Über kinematographisches Erzählen«, 2009). Zischler wird über »Kafkas Junggesellenreisen mit Max Brod« sprechen, Alt zu »Kino und Stereoskop. Filmisches Sehen in Franz Kafkas Erzählverfahren«. Wechselwirkungen zwischen Kino und Literatur werden gesucht und gefunden.

 

Prickelnder, weil weniger vorhersehbar, wird es bei Michal Bregants Versuch »Kafkas Prag in den Filmen von Jan Kr?íženecký« – da wird das Thema auf interessante Weise weiter gedacht, werden Überschneidungen gesucht zwischen zwei Ästhetiken, Blicken, Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Ebenfalls äußerst anregend klingt Stewart Trysters Thema: »Ya‘akcov Ben-Dov und die Verbreitung des Films Shivat Tzion« – hier wird Kafka zum Zeugen historischer Prozesse.

 

So kann ein sinnstiftendes Symposium funktionieren: In nur vier Zügen kommt man vom Detail zum großen Ganzen, von den Geistes- und Gemütsregungen eines Künstlers zu den Fluchtlinien und -bewegungen des 20. Jahrhunderts.