Der Galápagos-Fink, HAL 9000 und ich

Materialien zur Meinungsbildung /// folge 129

 

Die Bedachtsamkeit ist verschwunden. Es gibt, ähnlich was Brillen und Frisuren anbelangt, offenkundig eine Mode der Gemütsverfassungen, eine Übereinkunft, was stimmungsmäßig in und out ist. In den 80er Jahren etwa galt gute Laune als systemstabilisierende Popper-Scheiße für Konsumtrottel. Atze und Pit, die mit ihren Hunden immer vor Trinkhalle Hirmsel rumsitzen, finden das noch heute. Bei allen anderen hat gute Laune Konjunktur.

 

Alles ist immer laut, bunt, hektisch. Als gelte es, vor allem Bedachtsamkeit zu verhindern. Schmähte man früher jemanden, weil er kurz angebunden, fahrig und unaufmerksam war, heißt es heute, er sei »kommunikationsstarker Netzwerker«. 

 

So nimmt in der Evolution der mentalen Moden die Bedachtsamkeit jene Rolle ein, die dem Galápagos-Fink bei Darwin zukommt. Gleich dem kuriosen Piepmatz existiert sie nur noch in Insellagen. Etwa in ehemaligen Staatsbetrieben oder der öffentlichen Verwaltung, wo sie freilich bereits zum Phlegma degeneriert ist (»Adressänderung? Momentchen?... ich mach mal den Computer an«). Jenseits dieser Nischen herrscht blinder Aktionismus, und ein vormals anrüchiger Begriff ist zum Imperativ geworden: Leidenschaft! Es reicht nicht mehr, etwa als Einzelhändler einem Kunden ein überflüssiges Spitzsieb anzudrehen. Nein, heute muss man -»dafür brennen«. Es ist ein Flächenbrand: Keiner mag mehr den großartigen Gedanken der Mäßigung denken. Nun wäre das alles nicht so erschütternd, wenn der begeisterte Mensch sich bloß an seiner Durchgeknalltheit erfreute. Doch er spürt einen Missionsauftrag, andere mit der eigenen Begeisterung anzustecken. 

 

So gerate ich, wenn ich mit Gesine Stabroth und ihrer »besten Freundin Tine« zusammensitze, in ein Sperrfeuer superlativischen Laberns. Egal ob Tines »supersüße Surfkursbekanntschaft« oder ihr bekloppter Indien-Urlaub: Alles ist »super spannend«, die Menschen sind stets »total interessant«, und selbst dem flauesten Einfall (nachts im Freibad kiffen) wird bescheinigt, »voll genial« zu sein. Transkribiert entspräche dem eine fortlaufende Großschreibung mit spendabler Portionierung von Ausrufezeichen, die jeden Satz als orthographische Schutthalde enden lassen. Derart wurde mir von einem Kinofilm berichtet, den ich — schneidiger Kasernenhofton! — unbedingt sehen müsse. Gleich morgen!!! Regisseur, Titel? Hm, alles nicht mehr zu ermitteln, alles weggespült von einem Sturzbach der Begeisterung. Irgendwas Witziges samt Lebensweisheit für Indientouris und Freibadkiffer. 

 

Ebenso verhält es sich mit der negativen Begeisterung, der Empörung: immer volle Pulle. Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« gerät über Sachverhalte in Rage, die ich für ausgewiesen randständig halte: Facebook-App zu langsam, Green-Day-Konzert ausverkauft, Alcopos teurer wegen scheiß Gema — und ständig Magen-Darm seit dem Indien-Urlaub. 

 

Ich bin für Begeisterung wie für Furor zu verkopft. Egal, ob ich sagte: »Gema gleich NSDAP, nur viel geschickter gemacht« oder »O là là, Chérie, dein sündiger Bauchnabel macht mich rasend vor Wollust«, es klänge immer, als wäre ich der Computer HAL 9000 in Kubricks »Odyssee im Weltraum«. Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass Begeisterung im Kopf vonstatten geht. Und meine Denkmurmel ist ein wohltemperiertes Behältnis, kein Hochofen. Ich brenne für nichts, da springt kein Funke über. Mir fehlt das Charisma, Menschen anzustecken oder mitzunehmen oder sie zu meinem namen-losen Liebslingsfilm zu verdonnern. Don’t follow leaders, watch the parking meters. Tolles Lied, total genial, super interessant — finden Sie auch? Das wäre echt süß.