Melancholie in der Stretchlimousine

Ein Film wie kein zweiter: Holy Motors von Leos Carax

In der rätselhaften ersten Szene von »Holy Motors« tritt Regisseur Leos Carax selbst auf. Er steht auf aus seinem Bett, durchquert sein Schlafzimmer und öffnet eine Geheimtür, die in einen Kinosaal führt, in dem King Vidors Klassiker »The Crowd« vorgeführt wird. Es folgt eine Totale des Zuschauerraums. Die Reihen sind dicht besetzt, aber die Zuschauer haben die Augen geschlossen und rühren sich nicht. Vielleicht schlafen sie, vielleicht befinden sie sich in einer Schockstarre. Man könnte auf die Idee kommen, dass sich der ziemlich unglaubliche Film, der auf diesen Prolog folgt, in die Träume des Publikums stehlen soll.

 

Carax ist ein Regisseur, der seine hochpersönlichen Bilder am liebsten auf Blockbustergröße aufbläst – und deswegen zwangsläufig Probleme hat, überhaupt einen Film zu finanzieren. »Holy Motors«, sein erster Langfilm seit »Pola X« vor 13 Jahren, dreht sich um einen geheimnisvollen Monsieur Oscar (Denis Lavant), der in einer weißen Stretchlimousine durch Paris kutschiert wird und in verschiedene Rollen schlüpft: Mal ist er ein rothaariger Unhold, der einen Friedhof heimsucht und Eva Mendes in die Katakomben verschleppt, mal der sorgende Vater einer Tochter mit Teenager-Problemen, dann wieder ein eiskalter Auftragskiller.

 

Es geht, das macht nicht nur die Eingangsszene deutlich, ums Kino: Lavant (schon in früheren Filmen des Regisseurs Alter ego) betritt und verlässt die einzelnen Episoden, wie man Filmsets betritt und verlässt. In formal wie erzählerisch entfesselter, oft rauschhafter Manier gleitet der Film durch Stimmungen, Genres, selbst durch unterschiedliche Bildregister: In einer Szene legt Oscar einen Latexanzug an und verwandelt sich in seinen eigenen Avatar.

 

Durchzogen wird »Holy Motors« von einer sanften Melancholie. Lavant ist ein alternder Showman. Ein Profi, der in jeder Rolle sein Bestes gibt, aber inzwischen müde geworden ist, sich nicht mehr sicher ist, ob sich das alles noch lohnt.

 

»Holy Motors« ist in vielen Szenen fast schon unverschämt nostalgisch, aber deswegen nicht rückwärts gewandt: In einem Moment beklagt sich Oscar über den Verlust des alten, analogen Filmmaterials, im nächsten träumt er digitale Träume. Leos Carax hat einen Film gedreht, der sich kopfüber sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft des Kinos stürzt, der gleichzeitig aus der Zeit gefallen und in seinen Suchbewegungen ganz und gar gegenwartsbezogen ist. Einen Film wie keinen zweiten.