Die im Tal, die sieht man nicht

Alpines Sozialdrama: »Winterdieb« von Ursula Meier

Berge zu filmen, ist keine einfache Aufgabe für Kameraleute. Nah liegt die Versuchung, in Postkartenmotiven zu schwelgen. Außerdem gibt es ein Nähe-Distanz-Dilemma: Geht man so nah ran, dass man Gestik und Mimik der Figuren erkennt, bleibt von der Landschaft nichts übrig, und in der Panoramatotalen kommen zwar die Berge zur Geltung, doch die Figuren verlieren sich in Unkenntlichkeit.

 

»Winterdieb«, der zweite Kinofilm der Schweizer Regisseurin Ursula Meier, löst diese Probleme souverän. Agnès Godard, bisher vor allem bekannt wegen ihrer Zusammenarbeit mit Claire Denis, führt die Kamera. Sie hat schon einmal mit Ursula Meier gedreht, bei »Home«, einem Spielfilm, der in einer ausgedehnten, sanft hügeligen, baumlosen Landschaft angesiedelt war. Damals erkundete Godard die Horizontale, nun zeigt sie, dass sie sich bestens auf den vertikal strukturierten Raum versteht, den Gegensatz von Berg und Tal, Schnee und Schatten, Weite und Enge. 

 

Schauplatz ist ein Ort in der Westschweiz: unten ein Hochhaus, eine Schnellstraße, ein winterlich brachliegendes Feld ohne Schnee und der von den Berghängen verstellte Blick. Oben weiße Pisten, Lifte, Hütten, wohlhabende Touristen und gleißendes Licht. Aber auch hier oben kann es eng werden, denn Godard und Meier schauen sich die Infrastruktur des Skitourismus aus der Nähe an, die Großküche in der Skihütte, die Mülltonnen am Hinterausgang. Die ersten Szenen spielen in einem Toilettenraum. Ein Junge zieht sich hastig um, die Wände schränken seine Bewegungen ein, der klaustrophobische Eindruck ist stark. Dieser Junge, zwölf Jahre alt, heißt Simon (Kacey Mottet Klein) und stiehlt, was immer ihm an wertvollen Ausrüstungsgegenständen in die Hände fällt: Skibrillen, Handschuhe, die Skier selber; später vertickt er das Diebesgut im Tal. Die Touristen sind arglos, sie rechnen nicht mit Dieben in ihrem Wintersportparadies, und Simon glaubt, dass es ihnen ohnehin nichts ausmacht: Sie kauften sich die Sachen einfach neu. »Winterdieb« verwendet viel Aufmerksamkeit auf den harschen sozialen Gegensatz. Ein schlichtes Sozial-drama wird der Film deswegen nicht.

 

Simon lebt zusammen mit seiner vielleicht 24 Jahre alten Schwes-ter (Léa Seydoux) in dem Hochhaus. Wo die Eltern sind, ist unklar. Es hat oft den Anschein, als sei er der Reifere, Vernünftigere der beiden. Im Laufe des Films wird ein Geheimnis aufgedeckt, durch das diese ohnehin fragile Bindung einen neuen Charakter annimmt. Am Ende sitzen beide in der Seilbahn, sie fährt berg-, er talwärts, und es ist alles andere als entschieden, ob sie sich in dieser Bewegung nun verfehlen oder begegnen.

 


Winterdieb (L’enfant d’en haut)
R: Ursula Meier, D: Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux, Martin Compston, 97 Min. Start: 8.11.